Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814.samkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einse- ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0032" n="22"/> ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe-<lb/> hen, daß dieſes Unternehmen deshalb fruchtlos blei-<lb/> ben muß, weil es für die Erzeugung der Verſchieden-<lb/> heiten wirklicher Fälle ſchlechthin keine Gränze giebt.<lb/> Auch hat man gerade in den allerneueſten Geſetzbü-<lb/> chern allen Schein eines Beſtrebens nach dieſer mate-<lb/> riellen Vollſtändigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch<lb/> etwas anderes an die Stelle derſelben zu ſetzen.<lb/> Allein es giebt allerdings eine ſolche Vollſtändigkeit<lb/> in anderer Art, wie ſich durch einen Kunſtausdruck<lb/> der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck<lb/> nämlich giebt es gewiſſe Beſtimmungen, aus deren<lb/> Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit<lb/> folgen: durch dieſe, z. B. durch zwey Seiten und den<lb/> zwiſchenliegenden Winkel, iſt das Dreyeck <hi rendition="#g">gegeben</hi>.<lb/> Auf ähnliche Weiſe hat jeder Theil unſres Rechts<lb/> ſolche Stücke, wodurch die übrigen gegeben ſind: wir<lb/> können ſie die leitenden Grundſätze nennen. Dieſe<lb/> heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in-<lb/> nern Zuſammenhang und die Art der Verwandtſchaft<lb/> aller juriſtiſchen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge-<lb/> hört eben zu den ſchwerſten Aufgaben unſrer Wiſſen-<lb/> ſchaft, ja es iſt eigentlich dasjenige, was unſrer Ar-<lb/> beit den wiſſenſchaftlichen Character giebt. Entſteht<lb/> nun das Geſetzbuch in einer Zeit, welche dieſer Kunſt<lb/> nicht mächtig iſt, ſo ſind folgende Uebel ganz unver-<lb/> meidlich. Die Rechtspflege wird ſcheinbar durch das<lb/> Geſetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0032]
ſamkeit Rechtsfälle beobachtet hat, wird leicht einſe-
hen, daß dieſes Unternehmen deshalb fruchtlos blei-
ben muß, weil es für die Erzeugung der Verſchieden-
heiten wirklicher Fälle ſchlechthin keine Gränze giebt.
Auch hat man gerade in den allerneueſten Geſetzbü-
chern allen Schein eines Beſtrebens nach dieſer mate-
riellen Vollſtändigkeit völlig aufgegeben, ohne jedoch
etwas anderes an die Stelle derſelben zu ſetzen.
Allein es giebt allerdings eine ſolche Vollſtändigkeit
in anderer Art, wie ſich durch einen Kunſtausdruck
der Geometrie klar machen läßt. In jedem Dreyeck
nämlich giebt es gewiſſe Beſtimmungen, aus deren
Verbindung zugleich alle übrige mit Nothwendigkeit
folgen: durch dieſe, z. B. durch zwey Seiten und den
zwiſchenliegenden Winkel, iſt das Dreyeck gegeben.
Auf ähnliche Weiſe hat jeder Theil unſres Rechts
ſolche Stücke, wodurch die übrigen gegeben ſind: wir
können ſie die leitenden Grundſätze nennen. Dieſe
heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den in-
nern Zuſammenhang und die Art der Verwandtſchaft
aller juriſtiſchen Begriffe und Sätze zu erkennen, ge-
hört eben zu den ſchwerſten Aufgaben unſrer Wiſſen-
ſchaft, ja es iſt eigentlich dasjenige, was unſrer Ar-
beit den wiſſenſchaftlichen Character giebt. Entſteht
nun das Geſetzbuch in einer Zeit, welche dieſer Kunſt
nicht mächtig iſt, ſo ſind folgende Uebel ganz unver-
meidlich. Die Rechtspflege wird ſcheinbar durch das
Geſetzbuch, in der That aber durch etwas anderes,
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