einem thierähnlichen Zustand gelebt habe, und von da durch allmähliche Entwicklung zu einem leidlichen Daseyn, bis endlich zu der Höhe gekommen sey, auf welcher wir jetzt stehen. Wir können diese Ansicht unberührt lassen, und uns auf die Thatsache jenes ersten urkundlichen Zustandes des bürgerlichen Rechts beschränken. Wir wollen versuchen, einige allgemeine Züge dieser Periode darzustellen, in welcher das Recht wie die Sprache im Bewußtseyn des Vol- kes lebt.
Diese Jugendzeit der Völker ist arm an Begrif- fen, aber sie genießt ein klares Bewußtseyn ihrer Zu- stände und Verhältnisse, sie fühlt und durchlebt diese ganz und vollständig, während wir, in unsrem künst- lich verwickelten Daseyn, von unserm eigenen Reich- thum überwältigt sind, anstatt ihn zu genießen und zu beherrschen. Jener klare, naturgemäße Zustand bewährt sich vorzüglich auch im bürgerlichen Rechte, und so wie für jeden einzelnen Menschen seine Familien- verhältnisse und sein Grundbesitz durch eigene Würdi- gung bedeutender werden, so ist aus gleichem Grunde möglich, daß die Regeln des Privatrechts selbst zu den Gegenständen des Volksglaubens gehören. Allein jene geistigen Functionen bedürfen eines körperlichen Daseyns, um festgehalten zu werden. Ein solcher Körper ist für die Sprache ihre stete, ununterbrochene Uebung, für die Verfassung sind es die sichtbaren öffentlichen Gewalten, was vertritt aber diese Stelle
einem thierähnlichen Zuſtand gelebt habe, und von da durch allmähliche Entwicklung zu einem leidlichen Daſeyn, bis endlich zu der Höhe gekommen ſey, auf welcher wir jetzt ſtehen. Wir können dieſe Anſicht unberührt laſſen, und uns auf die Thatſache jenes erſten urkundlichen Zuſtandes des bürgerlichen Rechts beſchränken. Wir wollen verſuchen, einige allgemeine Züge dieſer Periode darzuſtellen, in welcher das Recht wie die Sprache im Bewußtſeyn des Vol- kes lebt.
Dieſe Jugendzeit der Völker iſt arm an Begrif- fen, aber ſie genießt ein klares Bewußtſeyn ihrer Zu- ſtände und Verhältniſſe, ſie fühlt und durchlebt dieſe ganz und vollſtändig, während wir, in unſrem künſt- lich verwickelten Daſeyn, von unſerm eigenen Reich- thum überwältigt ſind, anſtatt ihn zu genießen und zu beherrſchen. Jener klare, naturgemäße Zuſtand bewährt ſich vorzüglich auch im bürgerlichen Rechte, und ſo wie für jeden einzelnen Menſchen ſeine Familien- verhältniſſe und ſein Grundbeſitz durch eigene Würdi- gung bedeutender werden, ſo iſt aus gleichem Grunde möglich, daß die Regeln des Privatrechts ſelbſt zu den Gegenſtänden des Volksglaubens gehören. Allein jene geiſtigen Functionen bedürfen eines körperlichen Daſeyns, um feſtgehalten zu werden. Ein ſolcher Körper iſt für die Sprache ihre ſtete, ununterbrochene Uebung, für die Verfaſſung ſind es die ſichtbaren öffentlichen Gewalten, was vertritt aber dieſe Stelle
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[9/0019]
einem thierähnlichen Zuſtand gelebt habe, und von
da durch allmähliche Entwicklung zu einem leidlichen
Daſeyn, bis endlich zu der Höhe gekommen ſey, auf
welcher wir jetzt ſtehen. Wir können dieſe Anſicht
unberührt laſſen, und uns auf die Thatſache jenes
erſten urkundlichen Zuſtandes des bürgerlichen Rechts
beſchränken. Wir wollen verſuchen, einige allgemeine
Züge dieſer Periode darzuſtellen, in welcher das
Recht wie die Sprache im Bewußtſeyn des Vol-
kes lebt.
Dieſe Jugendzeit der Völker iſt arm an Begrif-
fen, aber ſie genießt ein klares Bewußtſeyn ihrer Zu-
ſtände und Verhältniſſe, ſie fühlt und durchlebt dieſe
ganz und vollſtändig, während wir, in unſrem künſt-
lich verwickelten Daſeyn, von unſerm eigenen Reich-
thum überwältigt ſind, anſtatt ihn zu genießen und
zu beherrſchen. Jener klare, naturgemäße Zuſtand
bewährt ſich vorzüglich auch im bürgerlichen Rechte,
und ſo wie für jeden einzelnen Menſchen ſeine Familien-
verhältniſſe und ſein Grundbeſitz durch eigene Würdi-
gung bedeutender werden, ſo iſt aus gleichem Grunde
möglich, daß die Regeln des Privatrechts ſelbſt zu
den Gegenſtänden des Volksglaubens gehören. Allein
jene geiſtigen Functionen bedürfen eines körperlichen
Daſeyns, um feſtgehalten zu werden. Ein ſolcher
Körper iſt für die Sprache ihre ſtete, ununterbrochene
Uebung, für die Verfaſſung ſind es die ſichtbaren
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Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/19>, abgerufen am 23.07.2024.
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