Wir befragen zuerst die Geschichte, wie sich bey Völkern edler Stämme das Recht wirklich entwickelt hat: dem Urtheil, was hieran gut, vielleicht nothwen- dig, oder aber tadelnswerth seyn möge, ist damit keinesweges vorgegriffen.
Wo wir zuerst urkundliche Geschichte finden, hat das bürgerliche Recht schon einen bestimmten Cha- racter, dem Volk eigenthümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung. Ja diese Erscheinungen haben kein abgesondertes Daseyn, es sind nur einzelne Kräfte und Thätigkeiten des einen Volkes, in der Natur un- trennbar verbunden, und nur unsrer Betrachtung als besondere Eigenschaften erscheinend. Was sie zu ei- nem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Ueberzeu- gung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Noth- wendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entstehung ausschließt.
Wie diese eigenthümlichen Functionen der Völ- ker, wodurch sie selbst erst zu Individuen werden, entstanden sind, diese Frage ist auf geschichtlichem Wege nicht zu beantworten. In neueren Zeiten ist die Ansicht herrschend gewesen, daß alles zuerst in
2. Entſtehung des poſitiven Rechts.
Wir befragen zuerſt die Geſchichte, wie ſich bey Völkern edler Stämme das Recht wirklich entwickelt hat: dem Urtheil, was hieran gut, vielleicht nothwen- dig, oder aber tadelnswerth ſeyn möge, iſt damit keinesweges vorgegriffen.
Wo wir zuerſt urkundliche Geſchichte finden, hat das bürgerliche Recht ſchon einen beſtimmten Cha- racter, dem Volk eigenthümlich, ſo wie ſeine Sprache, Sitte, Verfaſſung. Ja dieſe Erſcheinungen haben kein abgeſondertes Daſeyn, es ſind nur einzelne Kräfte und Thätigkeiten des einen Volkes, in der Natur un- trennbar verbunden, und nur unſrer Betrachtung als beſondere Eigenſchaften erſcheinend. Was ſie zu ei- nem Ganzen verknüpft, iſt die gemeinſame Ueberzeu- gung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Noth- wendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entſtehung ausſchließt.
Wie dieſe eigenthümlichen Functionen der Völ- ker, wodurch ſie ſelbſt erſt zu Individuen werden, entſtanden ſind, dieſe Frage iſt auf geſchichtlichem Wege nicht zu beantworten. In neueren Zeiten iſt die Anſicht herrſchend geweſen, daß alles zuerſt in
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2.
Entſtehung des poſitiven Rechts.
Wir befragen zuerſt die Geſchichte, wie ſich bey
Völkern edler Stämme das Recht wirklich entwickelt
hat: dem Urtheil, was hieran gut, vielleicht nothwen-
dig, oder aber tadelnswerth ſeyn möge, iſt damit
keinesweges vorgegriffen.
Wo wir zuerſt urkundliche Geſchichte finden, hat
das bürgerliche Recht ſchon einen beſtimmten Cha-
racter, dem Volk eigenthümlich, ſo wie ſeine Sprache,
Sitte, Verfaſſung. Ja dieſe Erſcheinungen haben kein
abgeſondertes Daſeyn, es ſind nur einzelne Kräfte
und Thätigkeiten des einen Volkes, in der Natur un-
trennbar verbunden, und nur unſrer Betrachtung als
beſondere Eigenſchaften erſcheinend. Was ſie zu ei-
nem Ganzen verknüpft, iſt die gemeinſame Ueberzeu-
gung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Noth-
wendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und
willkührliche Entſtehung ausſchließt.
Wie dieſe eigenthümlichen Functionen der Völ-
ker, wodurch ſie ſelbſt erſt zu Individuen werden,
entſtanden ſind, dieſe Frage iſt auf geſchichtlichem
Wege nicht zu beantworten. In neueren Zeiten iſt
die Anſicht herrſchend geweſen, daß alles zuerſt in
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Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/18>, abgerufen am 04.03.2025.
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