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Santa Clara, Abraham a: Grammatica Religiosa, Oder Geistliche Tugend-Schul. Köln, 1699.

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Die Neun und Viertzigste Geistliche Lection

6. Nach diesem seynd wir zum andern Orth der Todten kommen/
und haben gesehen einen gar tieffen Thal/ und in selbigem einen sehr
tieffen Fluß/ welcher einen unaußsprechlich stinckenden Nebel von sich
gab/ und in selbigem war ein Feur/ so biß zum Himmel zureichen scheine-
te. Hergegen war auff der andern Seiten eine so grausame Kälte/ daß
ich/ so viel mich gedunckt/ nichts erschröcklichers jemahlen gesehen hab.
Daselbst befunden sich unzahlbare Seelen/ so bald in den abscheulig-
sten Fluß geworffen warden/ bald auß selbigem herauß brachen/ und im
Feuer verwickelet wurden/ nachmahlen die allerbitterste Kälte musten
außstehen. Die Peinen dieses Orts waren grösser als deß vorigen/
und waren dannoch nur Tormenten deß Feg - Feurs. Weiters seynd
wir kommen zum dritten Orth der Peinungen/ welche so überauß grau-
samb und entsetzlich waren/ daß auch die geringste derselben von keiner
menschlichen Vernunfft begriffen/ weder mit der Zungen können auß-
gesprochen werden. Dann ich sahe/ daß sie gar kurtzer Zeit durch mehr
als hundert unterschiedlichen Torturen gleichsamb vernichtiget/ und als-
bald wiederumb zum Stand gebracht wurden; bald aber wiederumb schier
zu nichts gemacht/ und abermahl ergäntzet wurden. Jn dem erstge-
meldten Orth hab ich den Vorsteher einer gewissen geistlichen Versamb-
lung gesehen: Dieser war in den grösten Peinen desselben Orts/ bald im
Feuer/ bald in den mit fliessenden Schweffel und Pech vermischten al-
lerhitzigsten Bädern: und da ich ihm die Ursach solcher Tormenten/ fragte/
gab er mir zur Antwort/ und sagte: Jch leide die Qualen mehr umb
der Sünde meiner untergebenen/ als umb meiner eigenen Willen: die mei-
nige hab ich durch öfftere Beicht/ durch Casteyung meines Leibs/ durch
stetes Gebett/ und andere Buß-Werck außzulöschen mich beflissen: Die-
weilen ich aber auß einer eitelen Forcht meine Geistliche in gebührender
Zucht nicht gehalten hab; auff daß ich nemblich durch derselben Wider-
stand meines Ambs nicht entsetzt werde; derhalben werden meine Schmer-
tzen täglich grösser; zumahlen derselben Sünde/ die sie wegen meiner
verübten Nachlässigkeit noch täglich begehen/ mir zugemessen werden/
daß ich also das End meiner Peinen nicht wissen kan. Auch hab ich
an diesem Ort gefunden einen mir in der Welt bekennten und berühmten
Doctoren/ so Zeit seines Lebens von jederman groß geehret worden:
mit selbigem hatte ich ein grosses Mit-Leyden/ und fragte ihn/ ob er
der Hoffnung lebte/ daß er einsmals von sothanen Tormenten würde be-

freyet
Die Neun und Viertzigſte Geiſtliche Lection

6. Nach dieſem ſeynd wir zum andern Orth der Todten kommen/
und haben geſehen einen gar tieffen Thal/ und in ſelbigem einen ſehr
tieffen Fluß/ welcher einen unaußſprechlich ſtinckenden Nebel von ſich
gab/ und in ſelbigem war ein Feur/ ſo biß zum Himmel zureichen ſcheine-
te. Hergegen war auff der andern Seiten eine ſo grauſame Kaͤlte/ daß
ich/ ſo viel mich gedunckt/ nichts erſchroͤcklichers jemahlen geſehen hab.
Daſelbſt befunden ſich unzahlbare Seelen/ ſo bald in den abſcheulig-
ſten Fluß geworffen warden/ bald auß ſelbigem herauß brachen/ und im
Feuer verwickelet wurden/ nachmahlen die allerbitterſte Kaͤlte muſten
außſtehen. Die Peinen dieſes Orts waren groͤſſer als deß vorigen/
und waren dannoch nur Tormenten deß Feg - Feurs. Weiters ſeynd
wir kommen zum dritten Orth der Peinungen/ welche ſo uͤberauß grau-
ſamb und entſetzlich waren/ daß auch die geringſte derſelben von keiner
menſchlichen Vernunfft begriffen/ weder mit der Zungen koͤnnen auß-
geſprochen werden. Dann ich ſahe/ daß ſie gar kurtzer Zeit durch mehr
als hundert unterſchiedlichen Torturen gleichſamb vernichtiget/ und als-
bald wiederumb zum Stand gebracht wurden; bald aber wiederumb ſchier
zu nichts gemacht/ und abermahl ergaͤntzet wurden. Jn dem erſtge-
meldten Orth hab ich den Vorſteher einer gewiſſen geiſtlichen Verſamb-
lung geſehen: Dieſer war in den groͤſten Peinen deſſelben Orts/ bald im
Feuer/ bald in den mit flieſſenden Schweffel und Pech vermiſchten al-
lerhitzigſten Baͤdern: und da ich ihm die Urſach ſolcher Tormenten/ fragte/
gab er mir zur Antwort/ und ſagte: Jch leide die Qualen mehr umb
der Suͤnde meiner untergebenen/ als umb meiner eigenen Willen: die mei-
nige hab ich durch oͤfftere Beicht/ durch Caſteyung meines Leibs/ durch
ſtetes Gebett/ und andere Buß-Werck außzuloͤſchen mich befliſſen: Die-
weilen ich aber auß einer eitelen Forcht meine Geiſtliche in gebuͤhrender
Zucht nicht gehalten hab; auff daß ich nemblich durch derſelben Wider-
ſtand meines Ambs nicht entſetzt werde; derhalben werden meine Schmer-
tzen taͤglich groͤſſer; zumahlen derſelben Suͤnde/ die ſie wegen meiner
veruͤbten Nachlaͤſſigkeit noch taͤglich begehen/ mir zugemeſſen werden/
daß ich alſo das End meiner Peinen nicht wiſſen kan. Auch hab ich
an dieſem Ort gefunden einen mir in der Welt bekennten und beruͤhmten
Doctoren/ ſo Zeit ſeines Lebens von jederman groß geehret worden:
mit ſelbigem hatte ich ein groſſes Mit-Leyden/ und fragte ihn/ ob er
der Hoffnung lebte/ daß er einsmals von ſothanen Tormenten wuͤrde be-

freyet
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[632/0660] Die Neun und Viertzigſte Geiſtliche Lection 6. Nach dieſem ſeynd wir zum andern Orth der Todten kommen/ und haben geſehen einen gar tieffen Thal/ und in ſelbigem einen ſehr tieffen Fluß/ welcher einen unaußſprechlich ſtinckenden Nebel von ſich gab/ und in ſelbigem war ein Feur/ ſo biß zum Himmel zureichen ſcheine- te. Hergegen war auff der andern Seiten eine ſo grauſame Kaͤlte/ daß ich/ ſo viel mich gedunckt/ nichts erſchroͤcklichers jemahlen geſehen hab. Daſelbſt befunden ſich unzahlbare Seelen/ ſo bald in den abſcheulig- ſten Fluß geworffen warden/ bald auß ſelbigem herauß brachen/ und im Feuer verwickelet wurden/ nachmahlen die allerbitterſte Kaͤlte muſten außſtehen. Die Peinen dieſes Orts waren groͤſſer als deß vorigen/ und waren dannoch nur Tormenten deß Feg - Feurs. Weiters ſeynd wir kommen zum dritten Orth der Peinungen/ welche ſo uͤberauß grau- ſamb und entſetzlich waren/ daß auch die geringſte derſelben von keiner menſchlichen Vernunfft begriffen/ weder mit der Zungen koͤnnen auß- geſprochen werden. Dann ich ſahe/ daß ſie gar kurtzer Zeit durch mehr als hundert unterſchiedlichen Torturen gleichſamb vernichtiget/ und als- bald wiederumb zum Stand gebracht wurden; bald aber wiederumb ſchier zu nichts gemacht/ und abermahl ergaͤntzet wurden. Jn dem erſtge- meldten Orth hab ich den Vorſteher einer gewiſſen geiſtlichen Verſamb- lung geſehen: Dieſer war in den groͤſten Peinen deſſelben Orts/ bald im Feuer/ bald in den mit flieſſenden Schweffel und Pech vermiſchten al- lerhitzigſten Baͤdern: und da ich ihm die Urſach ſolcher Tormenten/ fragte/ gab er mir zur Antwort/ und ſagte: Jch leide die Qualen mehr umb der Suͤnde meiner untergebenen/ als umb meiner eigenen Willen: die mei- nige hab ich durch oͤfftere Beicht/ durch Caſteyung meines Leibs/ durch ſtetes Gebett/ und andere Buß-Werck außzuloͤſchen mich befliſſen: Die- weilen ich aber auß einer eitelen Forcht meine Geiſtliche in gebuͤhrender Zucht nicht gehalten hab; auff daß ich nemblich durch derſelben Wider- ſtand meines Ambs nicht entſetzt werde; derhalben werden meine Schmer- tzen taͤglich groͤſſer; zumahlen derſelben Suͤnde/ die ſie wegen meiner veruͤbten Nachlaͤſſigkeit noch taͤglich begehen/ mir zugemeſſen werden/ daß ich alſo das End meiner Peinen nicht wiſſen kan. Auch hab ich an dieſem Ort gefunden einen mir in der Welt bekennten und beruͤhmten Doctoren/ ſo Zeit ſeines Lebens von jederman groß geehret worden: mit ſelbigem hatte ich ein groſſes Mit-Leyden/ und fragte ihn/ ob er der Hoffnung lebte/ daß er einsmals von ſothanen Tormenten wuͤrde be- freyet

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Zitationshilfe: Santa Clara, Abraham a: Grammatica Religiosa, Oder Geistliche Tugend-Schul. Köln, 1699, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/santaclara_grammatica_1699/660>, abgerufen am 23.11.2024.