Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Unterredungen mit Gott.
daran, daß Menschenleben wie Mayenblüthe ist, die ein
Wind abwirft, und eine Nacht zerstört. Jeder Tag,
der weggerieselt ist, soll mir ein Bote des Todes seyn.
Jch will sterben, ehe ich sterbe; lehre mich meine Tage
zählen, damit ich klug werde. Jch will immer mit we-
nigeren Banden an der Erde hängen; ich will hintreten
an die Grube, die mich bald aufnimmt, will auf den Hü-
gel eines schlasenden Christen steigen, und hinüber-
schauen in das grenzenlose Meer der Ewigkeit, wo ich
unsterblich seyn werde.

Wir sehen dich nicht mehr unter deinen sterblichen
Brüdern wandeln, großer Erlöser! Aber es ist doch
süße Nahrung für uns, nach anderthalbtausend Jahren
deine Geschichte zu lesen, und die Reihe der schönen und
vortrefflichen Handlungen, die dir die Liebe des Volks
erwarben, durchzugehen. Aus dem Grunde des Her-
zens floß dir so manches Gute hervor, wie das Licht aus
der Sonne strömt, wie Leben und Glück von deinem
Thron ausfließt, und sich in alle Schöpsungen verbreitet!
O, daß deine Wohlgewogenheit gegen andre, deine Güte
und dein Mitleiden mit dem Armen auch mich zum Um-
gang mit andern geschickt mache, und mich die Kunst
lehre, auch dem, der am rauhen Bettelstab das Leben
so hinschleppt, mit der Gabe in der Hand zu begegnen!

Noch ein Tropfen Zeit, so ist die Reise zurückgelegt,
und meine Vaterstadt, die droben ist im Himmel, liegt
vor meinen Augen. Ach, Wort Gottes! so geh du
dann auch mit ins Elend, und begleite die Sterbenden
bey ihrem Abschied!

Meine
B 3

Unterredungen mit Gott.
daran, daß Menſchenleben wie Mayenblüthe iſt, die ein
Wind abwirft, und eine Nacht zerſtört. Jeder Tag,
der weggerieſelt iſt, ſoll mir ein Bote des Todes ſeyn.
Jch will ſterben, ehe ich ſterbe; lehre mich meine Tage
zählen, damit ich klug werde. Jch will immer mit we-
nigeren Banden an der Erde hängen; ich will hintreten
an die Grube, die mich bald aufnimmt, will auf den Hü-
gel eines ſchlaſenden Chriſten ſteigen, und hinüber-
ſchauen in das grenzenloſe Meer der Ewigkeit, wo ich
unſterblich ſeyn werde.

Wir ſehen dich nicht mehr unter deinen ſterblichen
Brüdern wandeln, großer Erlöſer! Aber es iſt doch
ſüße Nahrung für uns, nach anderthalbtauſend Jahren
deine Geſchichte zu leſen, und die Reihe der ſchönen und
vortrefflichen Handlungen, die dir die Liebe des Volks
erwarben, durchzugehen. Aus dem Grunde des Her-
zens floß dir ſo manches Gute hervor, wie das Licht aus
der Sonne ſtrömt, wie Leben und Glück von deinem
Thron ausfließt, und ſich in alle Schöpſungen verbreitet!
O, daß deine Wohlgewogenheit gegen andre, deine Güte
und dein Mitleiden mit dem Armen auch mich zum Um-
gang mit andern geſchickt mache, und mich die Kunſt
lehre, auch dem, der am rauhen Bettelſtab das Leben
ſo hinſchleppt, mit der Gabe in der Hand zu begegnen!

Noch ein Tropfen Zeit, ſo iſt die Reiſe zurückgelegt,
und meine Vaterſtadt, die droben iſt im Himmel, liegt
vor meinen Augen. Ach, Wort Gottes! ſo geh du
dann auch mit ins Elend, und begleite die Sterbenden
bey ihrem Abſchied!

Meine
B 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="21"/><fw place="top" type="header">Unterredungen mit Gott.</fw><lb/>
daran, daß Men&#x017F;chenleben wie Mayenblüthe i&#x017F;t, die ein<lb/>
Wind abwirft, und eine Nacht zer&#x017F;tört. Jeder Tag,<lb/>
der weggerie&#x017F;elt i&#x017F;t, &#x017F;oll mir ein Bote des Todes &#x017F;eyn.<lb/>
Jch will &#x017F;terben, ehe ich &#x017F;terbe; lehre mich meine Tage<lb/>
zählen, damit ich klug werde. Jch will immer mit we-<lb/>
nigeren Banden an der Erde hängen; ich will hintreten<lb/>
an die Grube, die mich bald aufnimmt, will auf den Hü-<lb/>
gel eines &#x017F;chla&#x017F;enden Chri&#x017F;ten &#x017F;teigen, und hinüber-<lb/>
&#x017F;chauen in das grenzenlo&#x017F;e Meer der Ewigkeit, wo ich<lb/>
un&#x017F;terblich &#x017F;eyn werde.</p><lb/>
        <p>Wir &#x017F;ehen dich nicht mehr unter deinen &#x017F;terblichen<lb/>
Brüdern wandeln, großer Erlö&#x017F;er! Aber es i&#x017F;t doch<lb/>
&#x017F;üße Nahrung für uns, nach anderthalbtau&#x017F;end Jahren<lb/>
deine Ge&#x017F;chichte zu le&#x017F;en, und die Reihe der &#x017F;chönen und<lb/>
vortrefflichen Handlungen, die dir die Liebe des Volks<lb/>
erwarben, durchzugehen. Aus dem Grunde des Her-<lb/>
zens floß dir &#x017F;o manches Gute hervor, wie das Licht aus<lb/>
der Sonne &#x017F;trömt, wie Leben und Glück von deinem<lb/>
Thron ausfließt, und &#x017F;ich in alle Schöp&#x017F;ungen verbreitet!<lb/>
O, daß deine Wohlgewogenheit gegen andre, deine Güte<lb/>
und dein Mitleiden mit dem Armen auch mich zum Um-<lb/>
gang mit andern ge&#x017F;chickt mache, und mich die Kun&#x017F;t<lb/>
lehre, auch dem, der am rauhen Bettel&#x017F;tab das Leben<lb/>
&#x017F;o hin&#x017F;chleppt, mit der Gabe in der Hand zu begegnen!</p><lb/>
        <p>Noch ein Tropfen Zeit, &#x017F;o i&#x017F;t die Rei&#x017F;e zurückgelegt,<lb/>
und meine Vater&#x017F;tadt, die droben i&#x017F;t im Himmel, liegt<lb/>
vor meinen Augen. Ach, Wort Gottes! &#x017F;o geh du<lb/>
dann auch mit ins Elend, und begleite die Sterbenden<lb/>
bey ihrem Ab&#x017F;chied!</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">B 3</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Meine</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0027] Unterredungen mit Gott. daran, daß Menſchenleben wie Mayenblüthe iſt, die ein Wind abwirft, und eine Nacht zerſtört. Jeder Tag, der weggerieſelt iſt, ſoll mir ein Bote des Todes ſeyn. Jch will ſterben, ehe ich ſterbe; lehre mich meine Tage zählen, damit ich klug werde. Jch will immer mit we- nigeren Banden an der Erde hängen; ich will hintreten an die Grube, die mich bald aufnimmt, will auf den Hü- gel eines ſchlaſenden Chriſten ſteigen, und hinüber- ſchauen in das grenzenloſe Meer der Ewigkeit, wo ich unſterblich ſeyn werde. Wir ſehen dich nicht mehr unter deinen ſterblichen Brüdern wandeln, großer Erlöſer! Aber es iſt doch ſüße Nahrung für uns, nach anderthalbtauſend Jahren deine Geſchichte zu leſen, und die Reihe der ſchönen und vortrefflichen Handlungen, die dir die Liebe des Volks erwarben, durchzugehen. Aus dem Grunde des Her- zens floß dir ſo manches Gute hervor, wie das Licht aus der Sonne ſtrömt, wie Leben und Glück von deinem Thron ausfließt, und ſich in alle Schöpſungen verbreitet! O, daß deine Wohlgewogenheit gegen andre, deine Güte und dein Mitleiden mit dem Armen auch mich zum Um- gang mit andern geſchickt mache, und mich die Kunſt lehre, auch dem, der am rauhen Bettelſtab das Leben ſo hinſchleppt, mit der Gabe in der Hand zu begegnen! Noch ein Tropfen Zeit, ſo iſt die Reiſe zurückgelegt, und meine Vaterſtadt, die droben iſt im Himmel, liegt vor meinen Augen. Ach, Wort Gottes! ſo geh du dann auch mit ins Elend, und begleite die Sterbenden bey ihrem Abſchied! Meine B 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/27
Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/27>, abgerufen am 21.11.2024.