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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Menschenliebe des Erlösers.
Laster einem Balken, und nennt kleine Fehler Splikter,
die ins Aug gefallen sind. Unstreitig sah er dabey auf
die Gewohnheit der Juden, besonders der Pharisäer, die
von ihrer selbstgewählten Heiligkeit übergroße Einbildun-
gen hatten, und die Irrthümer, oder vielmehr die Ab-
weichungen der Samariter in einigen Stücken, die das
Aeußere der Religion betrasen, ihnen, wie schwarze La-
ster, anrechneten. Auch vor dieser gefährlichen Krank-
heit, von welcher niemand, als der, der sich selbst recht
kennt, frey ist, warnt die Menschenliebe des Erlösers.
Ein Mensch, der sich zum Leiter und Führer eines Blin-
den aufwirft, und selbst keine gesunde Augen hat, ver-
dient Tadel und Züchtigung. Und das thun wir, wenn
wir immer von uns selber wegsehen, uns partheyisch mit
andern vergleichen, Gott danken, daß wir nicht sind
wie dieser und jener,
(Lucä 18, 11.) als wenn wir
nicht oft mit allen Gebetbüchern, Schatzkästlein, und
geistlichen Erquickstunden, mit dem schleichenden Gang,
mit der heiligen Andächteley, mit dem Kleinigkeitsgeist
in der Frömmigkeit, mit dem jammernden Seufzen viel
ärger wären, als dieser und jener, und geblendet von
diesem Selbstbetrug vergessen, daß wir selber noch der
Weisheit oder der Tugend, die von oben kommt,

(Jacobi 3, 17.) bedürfen -- Man verstehe aber unsern
Erlöser nicht so, als wenn er uns von der Pflicht der
Erbaulichkeit, und der brüderlichen Erinnerung losge-
sprochen hätte. Das Wort Gottes macht uns diese Auf-
merksamkeit auf die Tugend, auf die Verirrungen an-
drer an vielen Orten zur Schuldigkeit; und wo ist eine
edlere, schönere Art der Wohlthätigkeit, und der Liebe,
als diese: Retter einer gesunkenen Seele zu seyn? Möch-

ten

Menſchenliebe des Erlöſers.
Laſter einem Balken, und nennt kleine Fehler Splikter,
die ins Aug gefallen ſind. Unſtreitig ſah er dabey auf
die Gewohnheit der Juden, beſonders der Phariſäer, die
von ihrer ſelbſtgewählten Heiligkeit übergroße Einbildun-
gen hatten, und die Irrthümer, oder vielmehr die Ab-
weichungen der Samariter in einigen Stücken, die das
Aeußere der Religion betraſen, ihnen, wie ſchwarze La-
ſter, anrechneten. Auch vor dieſer gefährlichen Krank-
heit, von welcher niemand, als der, der ſich ſelbſt recht
kennt, frey iſt, warnt die Menſchenliebe des Erlöſers.
Ein Menſch, der ſich zum Leiter und Führer eines Blin-
den aufwirft, und ſelbſt keine geſunde Augen hat, ver-
dient Tadel und Züchtigung. Und das thun wir, wenn
wir immer von uns ſelber wegſehen, uns partheyiſch mit
andern vergleichen, Gott danken, daß wir nicht ſind
wie dieſer und jener,
(Lucä 18, 11.) als wenn wir
nicht oft mit allen Gebetbüchern, Schatzkäſtlein, und
geiſtlichen Erquickſtunden, mit dem ſchleichenden Gang,
mit der heiligen Andächteley, mit dem Kleinigkeitsgeiſt
in der Frömmigkeit, mit dem jammernden Seufzen viel
ärger wären, als dieſer und jener, und geblendet von
dieſem Selbſtbetrug vergeſſen, daß wir ſelber noch der
Weisheit oder der Tugend, die von oben kommt,

(Jacobi 3, 17.) bedürfen — Man verſtehe aber unſern
Erlöſer nicht ſo, als wenn er uns von der Pflicht der
Erbaulichkeit, und der brüderlichen Erinnerung losge-
ſprochen hätte. Das Wort Gottes macht uns dieſe Auf-
merkſamkeit auf die Tugend, auf die Verirrungen an-
drer an vielen Orten zur Schuldigkeit; und wo iſt eine
edlere, ſchönere Art der Wohlthätigkeit, und der Liebe,
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[158/0164] Menſchenliebe des Erlöſers. Laſter einem Balken, und nennt kleine Fehler Splikter, die ins Aug gefallen ſind. Unſtreitig ſah er dabey auf die Gewohnheit der Juden, beſonders der Phariſäer, die von ihrer ſelbſtgewählten Heiligkeit übergroße Einbildun- gen hatten, und die Irrthümer, oder vielmehr die Ab- weichungen der Samariter in einigen Stücken, die das Aeußere der Religion betraſen, ihnen, wie ſchwarze La- ſter, anrechneten. Auch vor dieſer gefährlichen Krank- heit, von welcher niemand, als der, der ſich ſelbſt recht kennt, frey iſt, warnt die Menſchenliebe des Erlöſers. Ein Menſch, der ſich zum Leiter und Führer eines Blin- den aufwirft, und ſelbſt keine geſunde Augen hat, ver- dient Tadel und Züchtigung. Und das thun wir, wenn wir immer von uns ſelber wegſehen, uns partheyiſch mit andern vergleichen, Gott danken, daß wir nicht ſind wie dieſer und jener, (Lucä 18, 11.) als wenn wir nicht oft mit allen Gebetbüchern, Schatzkäſtlein, und geiſtlichen Erquickſtunden, mit dem ſchleichenden Gang, mit der heiligen Andächteley, mit dem Kleinigkeitsgeiſt in der Frömmigkeit, mit dem jammernden Seufzen viel ärger wären, als dieſer und jener, und geblendet von dieſem Selbſtbetrug vergeſſen, daß wir ſelber noch der Weisheit oder der Tugend, die von oben kommt, (Jacobi 3, 17.) bedürfen — Man verſtehe aber unſern Erlöſer nicht ſo, als wenn er uns von der Pflicht der Erbaulichkeit, und der brüderlichen Erinnerung losge- ſprochen hätte. Das Wort Gottes macht uns dieſe Auf- merkſamkeit auf die Tugend, auf die Verirrungen an- drer an vielen Orten zur Schuldigkeit; und wo iſt eine edlere, ſchönere Art der Wohlthätigkeit, und der Liebe, als dieſe: Retter einer geſunkenen Seele zu ſeyn? Möch- ten

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/164>, abgerufen am 24.11.2024.