Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Menschenliebe des Erlösers. nicht immer in Angst und Schrecken leben, wenn wir injedem Augenblick die schärfste Rache des andern für je- den kleinen und übereilten Fehltritt befürchten müßten? Die wohlthätige Lehre Jesu Christi, die, so wie er, Liebe athmet, und Liebe vor sich hergehen läßt, hat uns vor die- ser Pein bewahrt. Einer, sagt sein Gesandter, (Gal. 6, 2.) trage des andern Last. Vergebt euch un- ter einander, als schwache, fehlerhafte Menschen, die von der Vollkommenheit nur reden, aber nie dazu gelan- gen können. Die Liebe deckt auch eine Menge von Vergehungen zu, (1 Petr. 4, 8.) sie eifert nicht, sie erzürnt sich nicht, sie ist langsam und freundlich, sie läßt sich nicht erbittern, sie duldet alles, sie hofft immer das Beste. (1 Cor. 13.) Und macht doch dar- über der besten Religion den Vorwurf nicht, daß sie stumpfe, feige, unwürdige, träge Menschen bilde, den Zorn vertilge, oder jede edelmüthige Ehrbegierde aus- rotte. Der Christ hat die vernünftigste, die schätzungs- wertheste Ehre auch unter den Menschen. So wenig sie aber von Kleinigkeiten abhängt, so wenig verliert er sie dadurch, und am wenigsten wird er sie durch ein Mit- tel vertheidigen, das mit seinem Gewissen streitet, und alle göttliche und menschliche Ordnungen in der Welt zu Boden stürzt. Jndem er großmüthig ist, bessert er seinen Feind, beschämt ihn, zwingt ihm das Geständniß ab, daß ein heitrer Ernst, ein männliches Betragen, eine weise und gebildete Denkungsart viel ehrwürdiger sey, als Tollkühnheit und stürmischer Starrsinn; er nimmt ihm den Willen zu schaden, leitet ihn zum stillen Nachdenken, schwächt die Macht seiner Begierden, er- spart ihm durch sein kluges Betragen manche schwere Sünde,
Menſchenliebe des Erlöſers. nicht immer in Angſt und Schrecken leben, wenn wir injedem Augenblick die ſchärfſte Rache des andern für je- den kleinen und übereilten Fehltritt befürchten müßten? Die wohlthätige Lehre Jeſu Chriſti, die, ſo wie er, Liebe athmet, und Liebe vor ſich hergehen läßt, hat uns vor die- ſer Pein bewahrt. Einer, ſagt ſein Geſandter, (Gal. 6, 2.) trage des andern Laſt. Vergebt euch un- ter einander, als ſchwache, fehlerhafte Menſchen, die von der Vollkommenheit nur reden, aber nie dazu gelan- gen können. Die Liebe deckt auch eine Menge von Vergehungen zu, (1 Petr. 4, 8.) ſie eifert nicht, ſie erzürnt ſich nicht, ſie iſt langſam und freundlich, ſie läßt ſich nicht erbittern, ſie duldet alles, ſie hofft immer das Beſte. (1 Cor. 13.) Und macht doch dar- über der beſten Religion den Vorwurf nicht, daß ſie ſtumpfe, feige, unwürdige, träge Menſchen bilde, den Zorn vertilge, oder jede edelmüthige Ehrbegierde aus- rotte. Der Chriſt hat die vernünftigſte, die ſchätzungs- wertheſte Ehre auch unter den Menſchen. So wenig ſie aber von Kleinigkeiten abhängt, ſo wenig verliert er ſie dadurch, und am wenigſten wird er ſie durch ein Mit- tel vertheidigen, das mit ſeinem Gewiſſen ſtreitet, und alle göttliche und menſchliche Ordnungen in der Welt zu Boden ſtürzt. Jndem er großmüthig iſt, beſſert er ſeinen Feind, beſchämt ihn, zwingt ihm das Geſtändniß ab, daß ein heitrer Ernſt, ein männliches Betragen, eine weiſe und gebildete Denkungsart viel ehrwürdiger ſey, als Tollkühnheit und ſtürmiſcher Starrſinn; er nimmt ihm den Willen zu ſchaden, leitet ihn zum ſtillen Nachdenken, ſchwächt die Macht ſeiner Begierden, er- ſpart ihm durch ſein kluges Betragen manche ſchwere Sünde,
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Menſchenliebe des Erlöſers.
nicht immer in Angſt und Schrecken leben, wenn wir in
jedem Augenblick die ſchärfſte Rache des andern für je-
den kleinen und übereilten Fehltritt befürchten müßten?
Die wohlthätige Lehre Jeſu Chriſti, die, ſo wie er, Liebe
athmet, und Liebe vor ſich hergehen läßt, hat uns vor die-
ſer Pein bewahrt. Einer, ſagt ſein Geſandter, (Gal.
6, 2.) trage des andern Laſt. Vergebt euch un-
ter einander, als ſchwache, fehlerhafte Menſchen, die
von der Vollkommenheit nur reden, aber nie dazu gelan-
gen können. Die Liebe deckt auch eine Menge von
Vergehungen zu, (1 Petr. 4, 8.) ſie eifert nicht, ſie
erzürnt ſich nicht, ſie iſt langſam und freundlich,
ſie läßt ſich nicht erbittern, ſie duldet alles, ſie hofft
immer das Beſte. (1 Cor. 13.) Und macht doch dar-
über der beſten Religion den Vorwurf nicht, daß ſie
ſtumpfe, feige, unwürdige, träge Menſchen bilde, den
Zorn vertilge, oder jede edelmüthige Ehrbegierde aus-
rotte. Der Chriſt hat die vernünftigſte, die ſchätzungs-
wertheſte Ehre auch unter den Menſchen. So wenig
ſie aber von Kleinigkeiten abhängt, ſo wenig verliert er
ſie dadurch, und am wenigſten wird er ſie durch ein Mit-
tel vertheidigen, das mit ſeinem Gewiſſen ſtreitet, und
alle göttliche und menſchliche Ordnungen in der Welt zu
Boden ſtürzt. Jndem er großmüthig iſt, beſſert er
ſeinen Feind, beſchämt ihn, zwingt ihm das Geſtändniß
ab, daß ein heitrer Ernſt, ein männliches Betragen,
eine weiſe und gebildete Denkungsart viel ehrwürdiger
ſey, als Tollkühnheit und ſtürmiſcher Starrſinn; er
nimmt ihm den Willen zu ſchaden, leitet ihn zum ſtillen
Nachdenken, ſchwächt die Macht ſeiner Begierden, er-
ſpart ihm durch ſein kluges Betragen manche ſchwere
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Zitationshilfe: | Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/156>, abgerufen am 16.02.2025. |