Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

Sesselträger tragen beim beständigen Wechsel der Woh-
nungen alles wohin man will. Auch hier weis man-
cher, an dessen Thüre man klingelt, gar oft nicht, was
sonst für Leute um ihn herum leben und wohnen.

Den 20sten Mai.

Auch der Pfingstmontag war nicht viel schöner.
Gegen Abend schien das Wetter kaum etwas besser zu
werden, so kam wieder ein solcher entsetzlicher Sturm mit
Wind und Schlagregen vermischt, daß alle Fenster zit-
terten. Aber die meisten Wiener merken nicht, daß ei-
ne Witterung von der Art dem Fremden ausserordentlich
auffallen muß. Denn sie sind den Anblick der schönen
ruhigen Natur gar nicht gewohnt. Die schönsten Mor-
gen werden verschlafen, und die Abende verspielt. Son-
ne, Mond und Sterne sieht man an vielen Orten gewis
nie. Denn auch noch im 5ten Stock sind vor jedem Fen-
ster Gitter von Eisen, und auch an den Dachfenstern
sind sie, weil oft noch oben ganze Familien mit kleinen
Kindern wohnen. Diese hindern zwar das Ausfallen,
aber auch die Aussicht. Man ist überall wie ein Gefan-
gener. Keine Gebäude sind geräumiger, weiter, heller,
als die, so ehemahls den Jesuiten, oder andern Geistli-
chen gehörten. Sie meinten, sie dürften getrost für die
Ewigkeit bauen, ihres Reichs würde kein Ende seyn *).

Heute
*) Heute urtheilte einer ganz bedeutend von des Kaisers
Einrichtungen,
daß das weiter nichts sei als eine
Abwechslung in der Welt mehr, er meinte, es könne
über Nacht wieder anders kommen. -- Das ist die
Sprache der Leute, die im Laufe der Welt die Vorse-
hung Gottes gar nicht gelten lassen, und weiter nichts
als

Seſſeltraͤger tragen beim beſtaͤndigen Wechſel der Woh-
nungen alles wohin man will. Auch hier weis man-
cher, an deſſen Thuͤre man klingelt, gar oft nicht, was
ſonſt fuͤr Leute um ihn herum leben und wohnen.

Den 20ſten Mai.

Auch der Pfingſtmontag war nicht viel ſchoͤner.
Gegen Abend ſchien das Wetter kaum etwas beſſer zu
werden, ſo kam wieder ein ſolcher entſetzlicher Sturm mit
Wind und Schlagregen vermiſcht, daß alle Fenſter zit-
terten. Aber die meiſten Wiener merken nicht, daß ei-
ne Witterung von der Art dem Fremden auſſerordentlich
auffallen muß. Denn ſie ſind den Anblick der ſchoͤnen
ruhigen Natur gar nicht gewohnt. Die ſchoͤnſten Mor-
gen werden verſchlafen, und die Abende verſpielt. Son-
ne, Mond und Sterne ſieht man an vielen Orten gewis
nie. Denn auch noch im 5ten Stock ſind vor jedem Fen-
ſter Gitter von Eiſen, und auch an den Dachfenſtern
ſind ſie, weil oft noch oben ganze Familien mit kleinen
Kindern wohnen. Dieſe hindern zwar das Ausfallen,
aber auch die Ausſicht. Man iſt uͤberall wie ein Gefan-
gener. Keine Gebaͤude ſind geraͤumiger, weiter, heller,
als die, ſo ehemahls den Jeſuiten, oder andern Geiſtli-
chen gehoͤrten. Sie meinten, ſie duͤrften getroſt fuͤr die
Ewigkeit bauen, ihres Reichs wuͤrde kein Ende ſeyn *).

Heute
*) Heute urtheilte einer ganz bedeutend von des Kaiſers
Einrichtungen,
daß das weiter nichts ſei als eine
Abwechslung in der Welt mehr, er meinte, es koͤnne
uͤber Nacht wieder anders kommen. — Das iſt die
Sprache der Leute, die im Laufe der Welt die Vorſe-
hung Gottes gar nicht gelten laſſen, und weiter nichts
als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <p><pb facs="#f0641" n="603"/><hi rendition="#fr">Se&#x017F;&#x017F;eltra&#x0364;ger</hi> tragen beim be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Wech&#x017F;el der Woh-<lb/>
nungen alles wohin man will. Auch hier weis man-<lb/>
cher, an de&#x017F;&#x017F;en Thu&#x0364;re man klingelt, gar oft nicht, was<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t fu&#x0364;r Leute um ihn herum leben und wohnen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="3">
              <head>Den 20&#x017F;ten Mai.</head><lb/>
              <p>Auch der <hi rendition="#fr">Pfing&#x017F;tmontag</hi> war nicht viel &#x017F;cho&#x0364;ner.<lb/>
Gegen Abend &#x017F;chien das Wetter kaum etwas be&#x017F;&#x017F;er zu<lb/>
werden, &#x017F;o kam wieder ein &#x017F;olcher ent&#x017F;etzlicher <hi rendition="#fr">Sturm</hi> mit<lb/>
Wind und Schlagregen vermi&#x017F;cht, daß alle Fen&#x017F;ter zit-<lb/>
terten. Aber die mei&#x017F;ten <hi rendition="#fr">Wiener</hi> merken nicht, daß ei-<lb/>
ne Witterung von der Art dem Fremden au&#x017F;&#x017F;erordentlich<lb/>
auffallen muß. Denn &#x017F;ie &#x017F;ind den Anblick der &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
ruhigen Natur gar nicht gewohnt. Die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Mor-<lb/>
gen werden ver&#x017F;chlafen, und die Abende ver&#x017F;pielt. Son-<lb/>
ne, Mond und Sterne &#x017F;ieht man an vielen Orten gewis<lb/>
nie. Denn auch noch im 5ten Stock &#x017F;ind vor jedem Fen-<lb/>
&#x017F;ter <hi rendition="#fr">Gitter von Ei&#x017F;en,</hi> und auch an den Dachfen&#x017F;tern<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;ie, weil oft noch oben ganze Familien mit kleinen<lb/>
Kindern wohnen. Die&#x017F;e hindern zwar das Ausfallen,<lb/>
aber auch die Aus&#x017F;icht. Man i&#x017F;t u&#x0364;berall wie ein Gefan-<lb/>
gener. Keine Geba&#x0364;ude &#x017F;ind gera&#x0364;umiger, weiter, heller,<lb/>
als die, &#x017F;o ehemahls den Je&#x017F;uiten, oder andern Gei&#x017F;tli-<lb/>
chen geho&#x0364;rten. Sie meinten, &#x017F;ie du&#x0364;rften getro&#x017F;t fu&#x0364;r die<lb/>
Ewigkeit bauen, ihres Reichs wu&#x0364;rde kein Ende &#x017F;eyn <note xml:id="fn11" next="#nfn11" place="foot" n="*)">Heute urtheilte einer ganz bedeutend von des <hi rendition="#fr">Kai&#x017F;ers<lb/>
Einrichtungen,</hi> daß das weiter nichts &#x017F;ei als eine<lb/>
Abwechslung in der Welt mehr, er meinte, es ko&#x0364;nne<lb/>
u&#x0364;ber Nacht wieder anders kommen. &#x2014; Das i&#x017F;t die<lb/>
Sprache der Leute, die im Laufe der Welt die Vor&#x017F;e-<lb/>
hung Gottes gar nicht gelten la&#x017F;&#x017F;en, und weiter nichts<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">als</fw></note>.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Heute</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[603/0641] Seſſeltraͤger tragen beim beſtaͤndigen Wechſel der Woh- nungen alles wohin man will. Auch hier weis man- cher, an deſſen Thuͤre man klingelt, gar oft nicht, was ſonſt fuͤr Leute um ihn herum leben und wohnen. Den 20ſten Mai. Auch der Pfingſtmontag war nicht viel ſchoͤner. Gegen Abend ſchien das Wetter kaum etwas beſſer zu werden, ſo kam wieder ein ſolcher entſetzlicher Sturm mit Wind und Schlagregen vermiſcht, daß alle Fenſter zit- terten. Aber die meiſten Wiener merken nicht, daß ei- ne Witterung von der Art dem Fremden auſſerordentlich auffallen muß. Denn ſie ſind den Anblick der ſchoͤnen ruhigen Natur gar nicht gewohnt. Die ſchoͤnſten Mor- gen werden verſchlafen, und die Abende verſpielt. Son- ne, Mond und Sterne ſieht man an vielen Orten gewis nie. Denn auch noch im 5ten Stock ſind vor jedem Fen- ſter Gitter von Eiſen, und auch an den Dachfenſtern ſind ſie, weil oft noch oben ganze Familien mit kleinen Kindern wohnen. Dieſe hindern zwar das Ausfallen, aber auch die Ausſicht. Man iſt uͤberall wie ein Gefan- gener. Keine Gebaͤude ſind geraͤumiger, weiter, heller, als die, ſo ehemahls den Jeſuiten, oder andern Geiſtli- chen gehoͤrten. Sie meinten, ſie duͤrften getroſt fuͤr die Ewigkeit bauen, ihres Reichs wuͤrde kein Ende ſeyn *). Heute *) Heute urtheilte einer ganz bedeutend von des Kaiſers Einrichtungen, daß das weiter nichts ſei als eine Abwechslung in der Welt mehr, er meinte, es koͤnne uͤber Nacht wieder anders kommen. — Das iſt die Sprache der Leute, die im Laufe der Welt die Vorſe- hung Gottes gar nicht gelten laſſen, und weiter nichts als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/641
Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/641>, abgerufen am 21.11.2024.