Der betrübten und ungesunden Witterung ungeach- tet fuhren ganze Familien nach den Landhäusern, wo man gestern die Fresserei bestellt hatte.
In Wien ist es Sitte am Pfingstsonntage, sei es übrigens Wetter, wie es wolle, seidene Kleider an- zuziehen, wie ich auch heute sah, trotz der Witterung.
Mittags aß ich bei Hrn. Wucherer, weil ich für Kirling, Nußdorf, Prater und Augarten bei dem Wetter herzlich dankte.
Heute sagte Jemand zu mir: Ich käme also, wenn ich nun diese Woche abreiste, grade recht nach Venedig zur Feierlichkeit auf den Himmelfahrtstag. -- So wenig wissen die Leute nur das Aeusserliche ihrer Religion! So leben sie in den Tag hinein, und bekümmern sich nicht um Wahrheit, Festtage, Zeitordnung im Leben etc. Durum genus hominum, quod acres morum castigatores expetit! Non illis sensus communis, non externa sacrorum reverentia, non sapien- tiae honor, non scientiae gloria inter illos ha- betur. Qui plurimum gulae indulget, is opti- mus, is sodalis. is amicus. Est si quem tan- quam eruditum suspiciunt, quasi rarum quod- dam, ab exteris oris allatum, et quod abhor- reat a communi hominum sorte, adspiciunt, cum illo rara consuetudo. Quare et eruditi vi- ri, qui inter illos nati sunt, si non peregrinas terras adierunt, vix habent, in quo excellant, deficiente stimulo, deficiente existimatione pu- blica. Baccho et Cereri libant cives, non Apol- lini et Musis. Seculum fere adhuc decurret, donec in literarum studio, ardore et ingenio, quos ubivis imitantur, Berolinenses longe adse-
cuti
P p 5
Der betruͤbten und ungeſunden Witterung ungeach- tet fuhren ganze Familien nach den Landhaͤuſern, wo man geſtern die Freſſerei beſtellt hatte.
In Wien iſt es Sitte am Pfingſtſonntage, ſei es uͤbrigens Wetter, wie es wolle, ſeidene Kleider an- zuziehen, wie ich auch heute ſah, trotz der Witterung.
Mittags aß ich bei Hrn. Wucherer, weil ich fuͤr Kirling, Nußdorf, Prater und Augarten bei dem Wetter herzlich dankte.
Heute ſagte Jemand zu mir: Ich kaͤme alſo, wenn ich nun dieſe Woche abreiſte, grade recht nach Venedig zur Feierlichkeit auf den Himmelfahrtstag. — So wenig wiſſen die Leute nur das Aeuſſerliche ihrer Religion! So leben ſie in den Tag hinein, und bekuͤmmern ſich nicht um Wahrheit, Feſttage, Zeitordnung im Leben ꝛc. Durum genus hominum, quod acres morum caſtigatores expetit! Non illis ſenſus communis, non externa ſacrorum reverentia, non ſapien- tiae honor, non ſcientiae gloria inter illos ha- betur. Qui plurimum gulae indulget, is opti- mus, is ſodalis. is amicus. Eſt ſi quem tan- quam eruditum ſuſpiciunt, quaſi rarum quod- dam, ab exteris oris allatum, et quod abhor- reat a communi hominum ſorte, adſpiciunt, cum illo rara conſuetudo. Quare et eruditi vi- ri, qui inter illos nati ſunt, ſi non peregrinas terras adierunt, vix habent, in quo excellant, deficiente ſtimulo, deficiente exiſtimatione pu- blica. Baccho et Cereri libant cives, non Apol- lini et Muſis. Seculum fere adhuc decurret, donec in literarum ſtudio, ardore et ingenio, quos ubivis imitantur, Berolinenſes longe adſe-
cuti
P p 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0639"n="601"/><p>Der betruͤbten und ungeſunden Witterung ungeach-<lb/>
tet <hirendition="#fr">fuhren</hi> ganze Familien nach den Landhaͤuſern, wo<lb/>
man geſtern die <hirendition="#fr">Freſſerei</hi> beſtellt hatte.</p><lb/><p>In <hirendition="#fr">Wien</hi> iſt es Sitte am <hirendition="#fr">Pfingſtſonntage,</hi>ſei<lb/>
es uͤbrigens Wetter, wie es wolle, ſeidene Kleider an-<lb/>
zuziehen, wie ich auch heute ſah, trotz der Witterung.</p><lb/><p>Mittags aß ich bei Hrn. <hirendition="#fr">Wucherer,</hi> weil ich fuͤr<lb/><hirendition="#fr">Kirling, Nußdorf, Prater</hi> und <hirendition="#fr">Augarten</hi> bei dem<lb/>
Wetter herzlich dankte.</p><lb/><p>Heute ſagte Jemand zu mir: Ich kaͤme alſo, wenn<lb/>
ich nun dieſe Woche abreiſte, grade recht nach <hirendition="#fr">Venedig</hi><lb/>
zur Feierlichkeit auf den <hirendition="#fr">Himmelfahrtstag.</hi>— So<lb/>
wenig wiſſen die Leute nur das Aeuſſerliche ihrer Religion!<lb/>
So leben ſie in den Tag hinein, und bekuͤmmern ſich<lb/>
nicht um Wahrheit, Feſttage, Zeitordnung im Leben ꝛc.<lb/><hirendition="#aq">Durum genus hominum, quod acres morum<lb/>
caſtigatores expetit! Non illis ſenſus communis,<lb/>
non externa ſacrorum reverentia, non ſapien-<lb/>
tiae honor, non ſcientiae gloria inter illos ha-<lb/>
betur. Qui plurimum gulae indulget, is opti-<lb/>
mus, is ſodalis. is amicus. Eſt ſi quem tan-<lb/>
quam eruditum ſuſpiciunt, quaſi rarum quod-<lb/>
dam, ab exteris oris allatum, et quod abhor-<lb/>
reat a communi hominum ſorte, adſpiciunt,<lb/>
cum illo rara conſuetudo. Quare et eruditi vi-<lb/>
ri, qui inter illos nati ſunt, ſi non peregrinas<lb/>
terras adierunt, vix habent, in quo excellant,<lb/>
deficiente ſtimulo, deficiente exiſtimatione pu-<lb/>
blica. Baccho et Cereri libant cives, non Apol-<lb/>
lini et Muſis. Seculum fere adhuc decurret,<lb/>
donec in literarum ſtudio, ardore et ingenio,<lb/>
quos ubivis imitantur, Berolinenſes longe adſe-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">P p 5</fw><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">cuti</hi></fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[601/0639]
Der betruͤbten und ungeſunden Witterung ungeach-
tet fuhren ganze Familien nach den Landhaͤuſern, wo
man geſtern die Freſſerei beſtellt hatte.
In Wien iſt es Sitte am Pfingſtſonntage, ſei
es uͤbrigens Wetter, wie es wolle, ſeidene Kleider an-
zuziehen, wie ich auch heute ſah, trotz der Witterung.
Mittags aß ich bei Hrn. Wucherer, weil ich fuͤr
Kirling, Nußdorf, Prater und Augarten bei dem
Wetter herzlich dankte.
Heute ſagte Jemand zu mir: Ich kaͤme alſo, wenn
ich nun dieſe Woche abreiſte, grade recht nach Venedig
zur Feierlichkeit auf den Himmelfahrtstag. — So
wenig wiſſen die Leute nur das Aeuſſerliche ihrer Religion!
So leben ſie in den Tag hinein, und bekuͤmmern ſich
nicht um Wahrheit, Feſttage, Zeitordnung im Leben ꝛc.
Durum genus hominum, quod acres morum
caſtigatores expetit! Non illis ſenſus communis,
non externa ſacrorum reverentia, non ſapien-
tiae honor, non ſcientiae gloria inter illos ha-
betur. Qui plurimum gulae indulget, is opti-
mus, is ſodalis. is amicus. Eſt ſi quem tan-
quam eruditum ſuſpiciunt, quaſi rarum quod-
dam, ab exteris oris allatum, et quod abhor-
reat a communi hominum ſorte, adſpiciunt,
cum illo rara conſuetudo. Quare et eruditi vi-
ri, qui inter illos nati ſunt, ſi non peregrinas
terras adierunt, vix habent, in quo excellant,
deficiente ſtimulo, deficiente exiſtimatione pu-
blica. Baccho et Cereri libant cives, non Apol-
lini et Muſis. Seculum fere adhuc decurret,
donec in literarum ſtudio, ardore et ingenio,
quos ubivis imitantur, Berolinenſes longe adſe-
cuti
P p 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/639>, abgerufen am 30.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.