Ein Auszug aus Zimmermanns vor- treflichen Buche über die Einsamkeit.
Gegen seine religiöse Melancholie suchte er Hülfe durch sein Gebet. Aber dann fiel ihm immer dabey ein, für ihn sey Beten ein Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al- lergleichgültigste Handlung zu beleidigen; zum Exempel, wenn er ausspuckte. Alles, wovon er sich einbildete, dass es Sünde seyn könnte, so toll auch der Gedanke war, hielt er faur Sünde. Vor dem Beichtstuhl fand er es nataurlicher Weise unmöglich, seines ganzen Sündenheers sich zu erinnern, und es dem Beichtvater so darzustellen, wie es in der ka- tholischen Kirche Sitte und Pflicht ist. Kaum hatte er ausgebeichtet, so fiel ihm immer wie- der eine unabsehbare Reihe von Sünden ein, und so gieng er den andern Tag wieder zum Beichtvater, wie ein Hypochondrist, der ei- nem Arzte seinen Zustand schon mit der über- flüssigsten Ausführlichkeit geschildert hat, an seinen Brief noch immer hundert Postscripte haengt.
Einsamkeit wirkte bey ihm schrecklich.
Tage-
IV.
Ein Auszug aus Zimmermanns vor- treflichen Buche über die Einſamkeit.
Gegen ſeine religiöſe Melancholie ſuchte er Hülfe durch ſein Gebet. Aber dann fiel ihm immer dabey ein, für ihn ſey Beten ein Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al- lergleichgültigſte Handlung zu beleidigen; zum Exempel, wenn er ausſpuckte. Alles, wovon er ſich einbildete, daſs es Sünde ſeyn könnte, ſo toll auch der Gedanke war, hielt er fûr Sünde. Vor dem Beichtſtuhl fand er es natûrlicher Weiſe unmöglich, ſeines ganzen Sündenheers ſich zu erinnern, und es dem Beichtvater ſo darzuſtellen, wie es in der ka- tholiſchen Kirche Sitte und Pflicht iſt. Kaum hatte er ausgebeichtet, ſo fiel ihm immer wie- der eine unabſehbare Reihe von Sünden ein, und ſo gieng er den andern Tag wieder zum Beichtvater, wie ein Hypochondriſt, der ei- nem Arzte ſeinen Zuſtand ſchon mit der über- flüſſigſten Ausführlichkeit geſchildert hat, an ſeinen Brief noch immer hundert Poſtſcripte hængt.
Einſamkeit wirkte bey ihm ſchrecklich.
Tage-
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IV.
Ein Auszug aus Zimmermanns vor-
treflichen Buche über die Einſamkeit.
Gegen ſeine religiöſe Melancholie ſuchte
er Hülfe durch ſein Gebet. Aber dann fiel
ihm immer dabey ein, für ihn ſey Beten ein
Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al-
lergleichgültigſte Handlung zu beleidigen;
zum Exempel, wenn er ausſpuckte. Alles,
wovon er ſich einbildete, daſs es Sünde ſeyn
könnte, ſo toll auch der Gedanke war, hielt
er fûr Sünde. Vor dem Beichtſtuhl fand er es
natûrlicher Weiſe unmöglich, ſeines ganzen
Sündenheers ſich zu erinnern, und es dem
Beichtvater ſo darzuſtellen, wie es in der ka-
tholiſchen Kirche Sitte und Pflicht iſt. Kaum
hatte er ausgebeichtet, ſo fiel ihm immer wie-
der eine unabſehbare Reihe von Sünden ein,
und ſo gieng er den andern Tag wieder zum
Beichtvater, wie ein Hypochondriſt, der ei-
nem Arzte ſeinen Zuſtand ſchon mit der über-
flüſſigſten Ausführlichkeit geſchildert hat, an
ſeinen Brief noch immer hundert Poſtſcripte
hængt.
Einſamkeit wirkte bey ihm ſchrecklich.
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Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig, 1785, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785/94>, abgerufen am 24.11.2024.
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