Es ist bekannt, daß sich von dem, was Menschenleben heißt, zweyerley Vor- stellungsarten denken lassen. Eine, die ich die menschenfeindliche nennen möchte, macht dieses Leben zu einem Ganzen, das seinen Anfang im Mutterleibe, sein Ende im Grabe hat, daß also hinter dem Grabe kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande- re sieht dieses Leben als einen kleinen Ab- schnitt einer Linie an, deren erstes Theil- chen, derselbe kleine Abschnitt nämlich, vom Punkte der Empfängniß im Mutterleibe, bis zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber mit dem Ende des ersten anfängt, und un- aufhörlich fortläuft. Diese Vorstellungsart (die ich die menschenfreundliche nenne, weil das kranke Menschenherz einen Balsam dar- an findet, dessen es bedarf, und den es sonst nirgends finden kann) denkt noch dieses zu ihrer Linie hinzu, daß sich aus dem Lebens- faden, der vom ersten Puncte des Seyns bis zum Grabe reicht, der andere, welcher vom Grabe anfängt, und Ewigkeiten durch- reicht, herausspinne.
Es
Erſter Abſchnitt.
Es iſt bekannt, daß ſich von dem, was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor- ſtellungsarten denken laſſen. Eine, die ich die menſchenfeindliche nennen moͤchte, macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande- re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab- ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil- chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un- aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart (die ich die menſchenfreundliche nenne, weil das kranke Menſchenherz einen Balſam dar- an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens- faden, der vom erſten Puncte des Seyns bis zum Grabe reicht, der andere, welcher vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch- reicht, herausſpinne.
Es
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0058"n="46"/><fwplace="top"type="header">Erſter Abſchnitt.</fw><lb/><p>Es iſt bekannt, daß ſich von dem,<lb/>
was Menſchenleben heißt, zweyerley <hirendition="#fr">Vor-<lb/>ſtellungsarten</hi> denken laſſen. Eine, die ich<lb/>
die <hirendition="#fr">menſchenfeindliche</hi> nennen moͤchte,<lb/>
macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das<lb/>ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende<lb/>
im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe<lb/>
kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande-<lb/>
re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab-<lb/>ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil-<lb/>
chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom<lb/>
Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis<lb/>
zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber<lb/>
mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un-<lb/>
aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart<lb/>
(die ich die <hirendition="#fr">menſchenfreundliche</hi> nenne, weil<lb/>
das kranke Menſchenherz einen Balſam dar-<lb/>
an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt<lb/>
nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu<lb/>
ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens-<lb/>
faden, der vom erſten Puncte des Seyns<lb/>
bis zum Grabe reicht, der andere, welcher<lb/>
vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch-<lb/>
reicht, herausſpinne.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Es</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[46/0058]
Erſter Abſchnitt.
Es iſt bekannt, daß ſich von dem,
was Menſchenleben heißt, zweyerley Vor-
ſtellungsarten denken laſſen. Eine, die ich
die menſchenfeindliche nennen moͤchte,
macht dieſes Leben zu einem Ganzen, das
ſeinen Anfang im Mutterleibe, ſein Ende
im Grabe hat, daß alſo hinter dem Grabe
kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande-
re ſieht dieſes Leben als einen kleinen Ab-
ſchnitt einer Linie an, deren erſtes Theil-
chen, derſelbe kleine Abſchnitt naͤmlich, vom
Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis
zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber
mit dem Ende des erſten anfaͤngt, und un-
aufhoͤrlich fortlaͤuft. Dieſe Vorſtellungsart
(die ich die menſchenfreundliche nenne, weil
das kranke Menſchenherz einen Balſam dar-
an findet, deſſen es bedarf, und den es ſonſt
nirgends finden kann) denkt noch dieſes zu
ihrer Linie hinzu, daß ſich aus dem Lebens-
faden, der vom erſten Puncte des Seyns
bis zum Grabe reicht, der andere, welcher
vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch-
reicht, herausſpinne.
Es
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/58>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.