Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
Meere von Leiden an, dessen Anblick die
kranke Seele nicht mehr ertragen kann --
und so stürzt das runde Steinchen, das vom
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-
lung neue Kräfte gewinnt, -- am Fuße
des Berges die Statue des Lebens nieder.
Wehe, wehe, die schöne, feste Statue,
sie ist nicht mehr!

So ists mit jedem Leiden, wodurch
das Gefühl von dem Werthe des Lebens
nach und nach aus der Seele des Leidenden
verdrängt, und die Empfindung von der
Lästigkeit des Lebens erzeuget, gestärkt, er-
höhet wird: bis der Entschluß aufwacht, die
Last wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu
vollziehen.

Das ist die Geschichte der Krankheit.
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-
theidigern des Selbstmordes zulasse, was
ich denselben, ohne die Rechte der Wahrheit
zu kränken, zulassen kann. Aber itzt darf
ich doch auch die ganze Wahrheit sagen?
Nicht wahr, wer der ersten Empfindung,
"Das Leben eine Last", mächtig entge-

gen

Erſter Abſchnitt.
Meere von Leiden an, deſſen Anblick die
kranke Seele nicht mehr ertragen kann —
und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-
lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße
des Berges die Statue des Lebens nieder.
Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue,
ſie iſt nicht mehr!

So iſts mit jedem Leiden, wodurch
das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens
nach und nach aus der Seele des Leidenden
verdraͤngt, und die Empfindung von der
Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er-
hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die
Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu
vollziehen.

Das iſt die Geſchichte der Krankheit.
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-
theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was
ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit
zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf
ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen?
Nicht wahr, wer der erſten Empfindung,
„Das Leben eine Laſt“, maͤchtig entge-

gen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0048" n="36"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
Meere von Leiden an, de&#x017F;&#x017F;en Anblick die<lb/>
kranke Seele nicht mehr ertragen kann &#x2014;<lb/>
und &#x017F;o &#x017F;tu&#x0364;rzt das runde Steinchen, das vom<lb/>
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-<lb/>
lung neue Kra&#x0364;fte gewinnt, &#x2014; am Fuße<lb/>
des Berges die Statue des Lebens nieder.<lb/>
Wehe, wehe, die &#x017F;cho&#x0364;ne, fe&#x017F;te Statue,<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t nicht mehr!</p><lb/>
          <p>So i&#x017F;ts mit jedem Leiden, wodurch<lb/>
das Gefu&#x0364;hl von dem Werthe des Lebens<lb/>
nach und nach aus der Seele des Leidenden<lb/>
verdra&#x0364;ngt, und die Empfindung von der<lb/>
La&#x0364;&#x017F;tigkeit des Lebens erzeuget, ge&#x017F;ta&#x0364;rkt, er-<lb/>
ho&#x0364;het wird: bis der Ent&#x017F;chluß aufwacht, die<lb/>
La&#x017F;t wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu<lb/>
vollziehen.</p><lb/>
          <p>Das i&#x017F;t die Ge&#x017F;chichte der Krankheit.<lb/>
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-<lb/>
theidigern des Selb&#x017F;tmordes zula&#x017F;&#x017F;e, was<lb/>
ich den&#x017F;elben, ohne die Rechte der Wahrheit<lb/>
zu kra&#x0364;nken, zula&#x017F;&#x017F;en kann. Aber itzt darf<lb/>
ich doch auch die ganze Wahrheit &#x017F;agen?<lb/>
Nicht wahr, wer der er&#x017F;ten Empfindung,<lb/><hi rendition="#fr">&#x201E;Das Leben eine La&#x017F;t&#x201C;,</hi> ma&#x0364;chtig entge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0048] Erſter Abſchnitt. Meere von Leiden an, deſſen Anblick die kranke Seele nicht mehr ertragen kann — und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol- lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße des Berges die Statue des Lebens nieder. Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue, ſie iſt nicht mehr! So iſts mit jedem Leiden, wodurch das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens nach und nach aus der Seele des Leidenden verdraͤngt, und die Empfindung von der Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er- hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu vollziehen. Das iſt die Geſchichte der Krankheit. Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver- theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen? Nicht wahr, wer der erſten Empfindung, „Das Leben eine Laſt“, maͤchtig entge- gen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/48
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/48>, abgerufen am 21.11.2024.