Es giebt auch Weise, die wider den Selbstmord sprechen: es sey unrecht sein Selbstmörder zu werden: man müsse auf den Punct zum Abzug warten, den die Natur fest- gestellet hat. Allein, was heißt dieß an- ders, als der Freyheit den Weg sperren?
Die ächte Freyheit des Geistes bestehet nicht darinn, daß er das Gefängniß durch- brechen kann, wann er will, sondern darinn, daß ihn kein Schmerz, kein Tyrann, keine Angst zwingen kann, es vor dem Augenblicke, den die höchste Weisheit genannt hat, selbst zu thun. Der Tyrann kann das Gefängniß durch- brechen -- aber daß der Mensch es selbst thue, dazu kann er den freyen Men- schengeist nicht zwingen. Und dann der Leib ist nicht bloß Gefängniß des Geistes, er ist Werkstätte, Wohnstätte des Unsterblichen, vom Schöpfer
tae suae negent, et nefas judicent, ipsum in- teremtorem sui fieri. Expectandum esse exi- tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit, non videt, se viam libertati claudere. --
gebaut
Nil
Dritter Abſchnitt.
Seneka.
Der chriſtliche Weiſe.
Es giebt auch Weiſe, die wider den Selbſtmord ſprechen: es ſey unrecht ſein Selbſtmoͤrder zu werden: man muͤſſe auf den Punct zum Abzug warten, den die Natur feſt- geſtellet hat. Allein, was heißt dieß an- ders, als der Freyheit den Weg ſperren?
Die aͤchte Freyheit des Geiſtes beſtehet nicht darinn, daß er das Gefaͤngniß durch- brechen kann, wann er will, ſondern darinn, daß ihn kein Schmerz, kein Tyrann, keine Angſt zwingen kann, es vor dem Augenblicke, den die hoͤchſte Weisheit genannt hat, ſelbſt zu thun. Der Tyrann kann das Gefaͤngniß durch- brechen — aber daß der Menſch es ſelbſt thue, dazu kann er den freyen Men- ſchengeiſt nicht zwingen. Und dann der Leib iſt nicht bloß Gefaͤngniß des Geiſtes, er iſt Werkſtaͤtte, Wohnſtaͤtte des Unſterblichen, vom Schoͤpfer
tae ſuae negent, et nefas judicent, ipſum in- teremtorem ſui fieri. Expectandum eſſe exi- tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit, non videt, ſe viam libertati claudere. —
gebaut
Nil
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Dritter Abſchnitt.
Seneka. Der chriſtliche Weiſe.
Es giebt
auch Weiſe,
die wider den
Selbſtmord
ſprechen: es
ſey unrecht ſein
Selbſtmoͤrder
zu werden:
man muͤſſe auf
den Punct
zum Abzug
warten, den
die Natur feſt-
geſtellet hat.
Allein, was
heißt dieß an-
ders, als der
Freyheit den
Weg ſperren? Die aͤchte Freyheit des
Geiſtes beſtehet nicht darinn,
daß er das Gefaͤngniß durch-
brechen kann, wann er will,
ſondern darinn, daß ihn kein
Schmerz, kein Tyrann, keine
Angſt zwingen kann, es vor
dem Augenblicke, den die
hoͤchſte Weisheit genannt hat,
ſelbſt zu thun. Der Tyrann
kann das Gefaͤngniß durch-
brechen — aber daß der
Menſch es ſelbſt thue, dazu
kann er den freyen Men-
ſchengeiſt nicht zwingen. Und
dann der Leib iſt nicht bloß
Gefaͤngniß des Geiſtes, er iſt
Werkſtaͤtte, Wohnſtaͤtte des
Unſterblichen, vom Schoͤpfer
gebaut
tae ſuae negent, et nefas judicent, ipſum in-
teremtorem ſui fieri. Expectandum eſſe exi-
tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit,
non videt, ſe viam libertati claudere. —
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/202>, abgerufen am 16.02.2025.
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