So sage ich dir nicht: löse die Schein- gründe wider den Selbstmord auf, son- dern: glaube mir's, daß alle Scheingrün- de der Mühe des Auflösens (wenigstens für dich) unwerth sind. In diesem, und in jedem ähnlichen Falle ist das Unphiloso- phische, ipse dixit, erste Philosophie. Denn die einer Versuchung zum Selbstmorde fä- hig sind, können nicht anders geleitet wer- den, als wie Kinder und Kranke -- durch den Glauben an das Mutterwort, und an die Befehle des Arztes.
Lies also keine Schrift, die dem Selbst- morde das Wort redet, denn sie ist, wenn sie die beste ist -- eine schöne Schale, wor- inn überzuckert Gift präsentirt wird. Lies nicht einmal die Biographien der Selbst- mörder, sie mögen so gut, oder so schlecht geschrieben seyn, als man will: Denn die- ses Lesen bringt uns den Gegenstand, der uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt zu nahe. Annalen der Diebsleute würden unter Dürftigen manche Diebstäle veranlas-
sen,
Dritter Abſchnitt.
So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein- gruͤnde wider den Selbſtmord auf, ſon- dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn- de der Muͤhe des Aufloͤſens (wenigſtens fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo- phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ- hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer- den, als wie Kinder und Kranke — durch den Glauben an das Mutterwort, und an die Befehle des Arztes.
Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt- morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor- inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies nicht einmal die Biographien der Selbſt- moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die- ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ-
ſen,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0156"n="144"/><fwplace="top"type="header">Dritter Abſchnitt.</fw><lb/><p>So ſage ich dir nicht: <hirendition="#fr">loͤſe die Schein-<lb/>
gruͤnde wider den Selbſtmord auf,</hi>ſon-<lb/>
dern: <hirendition="#fr">glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn-<lb/>
de der Muͤhe des Aufloͤſens</hi> (wenigſtens<lb/>
fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und<lb/>
in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo-<lb/>
phiſche, <hirendition="#aq"><hirendition="#i">ipſe dixit</hi>,</hi> erſte Philoſophie. Denn<lb/>
die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ-<lb/>
hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer-<lb/>
den, als wie Kinder und Kranke — durch<lb/>
den Glauben an das Mutterwort, und an<lb/>
die Befehle des Arztes.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt-<lb/>
morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn<lb/>ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor-<lb/>
inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies<lb/>
nicht einmal die <hirendition="#fr">Biographien</hi> der Selbſt-<lb/>
moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht<lb/>
geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die-<lb/>ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der<lb/>
uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt<lb/>
zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden<lb/>
unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſen,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[144/0156]
Dritter Abſchnitt.
So ſage ich dir nicht: loͤſe die Schein-
gruͤnde wider den Selbſtmord auf, ſon-
dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn-
de der Muͤhe des Aufloͤſens (wenigſtens
fuͤr dich) unwerth ſind. In dieſem, und
in jedem aͤhnlichen Falle iſt das Unphiloſo-
phiſche, ipſe dixit, erſte Philoſophie. Denn
die einer Verſuchung zum Selbſtmorde faͤ-
hig ſind, koͤnnen nicht anders geleitet wer-
den, als wie Kinder und Kranke — durch
den Glauben an das Mutterwort, und an
die Befehle des Arztes.
Lies alſo keine Schrift, die dem Selbſt-
morde das Wort redet, denn ſie iſt, wenn
ſie die beſte iſt — eine ſchoͤne Schale, wor-
inn uͤberzuckert Gift praͤſentirt wird. Lies
nicht einmal die Biographien der Selbſt-
moͤrder, ſie moͤgen ſo gut, oder ſo ſchlecht
geſchrieben ſeyn, als man will: Denn die-
ſes Leſen bringt uns den Gegenſtand, der
uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt
zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden
unter Duͤrftigen manche Diebſtaͤle veranlaſ-
ſen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/156>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.