Und wenn durch Erziehung, Lectüre, Umgang, Schauspiele etc. die Leidenschaft des schwachen Geschöpfes so hoch gespannt worden, daß es sich selbst mordete: dann dreht sich der Philosoph auf seinem Absatz, und singt sein Liedchen: "'s war schwacher Nervenbau."
Wie, wenn an einem heissen Som- mertage der Blitz die fürstliche Burg in Flamme setzte, und die Bürger, statt daß sie wetteiferten das Feuer zu löschen, müssig am Marktplatze zusammenstünden, einander ansähen, und das Sprüchlein wiederholten: "Heut war's sehr schwül", und die Flamme wüten liessen, bis auch ihre Häuser davon ergriffen wären: gerade so handeln die Menschenfreunde, die bey dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag zu Tag heller in's Auge leuchtet, nichts zu sagen haben, als vom schwachen Nerven- bau, und ihres Ortes selbst dazu beytra-
gen,
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Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
„Der ſchwache Nervenbau war ſchuld daran“!
Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre, Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz, und ſingt ſein Liedchen: „’s war ſchwacher Nervenbau.“
Wie, wenn an einem heiſſen Som- mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten: „Heut war’s ſehr ſchwuͤl“, und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven- bau, und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra-
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Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
„Der ſchwache Nervenbau war ſchuld
daran“!
Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre,
Umgang, Schauſpiele ꝛc. die Leidenſchaft
des ſchwachen Geſchoͤpfes ſo hoch geſpannt
worden, daß es ſich ſelbſt mordete: dann
dreht ſich der Philoſoph auf ſeinem Abſatz,
und ſingt ſein Liedchen:
„’s war ſchwacher Nervenbau.“
Wie, wenn an einem heiſſen Som-
mertage der Blitz die fuͤrſtliche Burg in
Flamme ſetzte, und die Buͤrger, ſtatt daß
ſie wetteiferten das Feuer zu loͤſchen, muͤſſig
am Marktplatze zuſammenſtuͤnden, einander
anſaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten:
„Heut war’s ſehr ſchwuͤl“,
und die Flamme wuͤten lieſſen, bis auch
ihre Haͤuſer davon ergriffen waͤren: gerade
ſo handeln die Menſchenfreunde, die bey
dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag
zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu
ſagen haben, als vom ſchwachen Nerven-
bau, und ihres Ortes ſelbſt dazu beytra-
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/129>, abgerufen am 16.02.2025.
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