"Würde ein Mensch, ein Vater zürnen, dem sein unvermu- thet zurückkehrender Sohn um den Hals fiele, und riefe: ich bin wie- der da, mein Vater: zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger hätte fortsetzen sollen: mir ist nur wohl, wo du bist. Und du lieber himmlischer Vater, solltest den unglücklichen Selbstmörder von dir weisen?"
Dieser Einwurf könnte deshalb einen stärkern Eindruck auf ein fühlend Menschen- herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes sehr künstlich in ein auffallendes Parallel mit menschlicher Güte zu setzen weiß. Wenn wir aber den Blick schärfen: so ist es nichts mehr als ein elender Fehlschluß, der blendet, und wahrlich nur den Unachtsamen blen- den kann.
Setzen wir den Fall nur etwas bestimm- ter, und der Scheingrund steht in seiner ganzen Blöße da.
Setzen
Zweyter Abſchnitt.
3.
„Wuͤrde ein Menſch, ein Vater zuͤrnen, dem ſein unvermu- thet zuruͤckkehrender Sohn um den Hals fiele, und riefe: ich bin wie- der da, mein Vater: zuͤrne nicht, daß ich die Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem Willen laͤnger haͤtte fortſetzen ſollen: mir iſt nur wohl, wo du biſt. Und du lieber himmliſcher Vater, ſollteſt den ungluͤcklichen Selbſtmoͤrder von dir weiſen?“
Dieſer Einwurf koͤnnte deshalb einen ſtaͤrkern Eindruck auf ein fuͤhlend Menſchen- herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes ſehr kuͤnſtlich in ein auffallendes Parallel mit menſchlicher Guͤte zu ſetzen weiß. Wenn wir aber den Blick ſchaͤrfen: ſo iſt es nichts mehr als ein elender Fehlſchluß, der blendet, und wahrlich nur den Unachtſamen blen- den kann.
Setzen wir den Fall nur etwas beſtimm- ter, und der Scheingrund ſteht in ſeiner ganzen Bloͤße da.
Setzen
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Zweyter Abſchnitt.
3.
„Wuͤrde ein Menſch, ein Vater
zuͤrnen, dem ſein unvermu-
thet zuruͤckkehrender Sohn um den
Hals fiele, und riefe: ich bin wie-
der da, mein Vater: zuͤrne nicht,
daß ich die Wanderſchaft abbreche,
die ich nach deinem Willen laͤnger
haͤtte fortſetzen ſollen: mir iſt nur
wohl, wo du biſt. Und du lieber
himmliſcher Vater, ſollteſt den
ungluͤcklichen Selbſtmoͤrder von dir
weiſen?“
Dieſer Einwurf koͤnnte deshalb einen
ſtaͤrkern Eindruck auf ein fuͤhlend Menſchen-
herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes
ſehr kuͤnſtlich in ein auffallendes Parallel mit
menſchlicher Guͤte zu ſetzen weiß. Wenn wir
aber den Blick ſchaͤrfen: ſo iſt es nichts
mehr als ein elender Fehlſchluß, der blendet,
und wahrlich nur den Unachtſamen blen-
den kann.
Setzen wir den Fall nur etwas beſtimm-
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/104>, abgerufen am 25.02.2025.
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