Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichte der Sexualtheorie.
(Flora 1822 p. 49) und C. L. Treviranus, der 1822 eine um-
fassende Widerlegung Henschel's: "die Lehre von dem Geschlecht
der Pflanzen in Bezug auf die neuesten Angriffe erwogen"
herausgab. Dagegen fanden sich einzelne Nachzügler jener krank-
haften philosophischen Richtung auch später noch; so z. B. J. B.
Wilbrand, Professor in Gießen, welcher noch 1830 (Flora p. 585)
in sehr subtiler Unterscheidung annahm, daß bei den Pflanzen
zwar etwas der thierischen Sexualität "Analoges", aber keines-
wegs wirkliche Sexualität stattfinde. In dieser ganzen natur-
philosophischen Literatur spricht sich die Unfähigkeit aus, Experi-
mente einfach mit gesundem Menschenverstand zu beurtheilen;
überall wird in den Erfolg der Versuche Etwas hineingedichtet,
was nicht in der entferntesten Beziehung zu den Bedingungen
und Ergebnissen derselben steht.

Ganz anders verhielt es sich dagegen mit den von Bern-
hardi 1811, von Girou 1828-30, und von Ramisch 1837
ausgesprochenen Zweifeln. Sie machten Versuche und beurtheilten
sie im Sinne naturwissenschaftlicher Forschung; nur waren sie
weder mit den nöthigen Kenntnissen eingeleitet, noch mit aus-
reichenden Vorsichtsmaßregeln durchgeführt; auch fehlte es diesen
Männern an genügender Literaturkenntniß. Schon im vorigen
Jahrhundert, ja selbst schon von Camerarius und Ray war
auf das gelegentliche Vorkommen männlicher Blüthen an weib-
lichen Pflanzen von Spinat, Hanf, Mercurialis hingewiesen
worden und doch experimentirten die Genannten gerade wieder
mit diesen, ohne das etwaige Auftreten männlicher Blüthen an
den weiblichen Versuchspflanzen oder andere Bestäubungsgelegen-
heiten sorgfältig genug auszuschließen.

So regten sich noch bis tief in die dreißiger Jahre hinein
Zweifel an der Sexualität der Pflanzen überhaupt oder doch
an ihrer allgemeinen Giltigkeit bei den Phanerogamen; denn
von den Kryptogamen war zunächst keine Rede, sie galten trotz
mancher werthvollen Wahrnehmungen früherer Zeit für ge-
schlechtslos. Uebrigens wurde von der großen Mehrzahl der
Botaniker an der sexuellen Bedeutung der Blüthenorgane nicht

Geſchichte der Sexualtheorie.
(Flora 1822 p. 49) und C. L. Treviranus, der 1822 eine um-
faſſende Widerlegung Henſchel's: „die Lehre von dem Geſchlecht
der Pflanzen in Bezug auf die neueſten Angriffe erwogen“
herausgab. Dagegen fanden ſich einzelne Nachzügler jener krank-
haften philoſophiſchen Richtung auch ſpäter noch; ſo z. B. J. B.
Wilbrand, Profeſſor in Gießen, welcher noch 1830 (Flora p. 585)
in ſehr ſubtiler Unterſcheidung annahm, daß bei den Pflanzen
zwar etwas der thieriſchen Sexualität „Analoges“, aber keines-
wegs wirkliche Sexualität ſtattfinde. In dieſer ganzen natur-
philoſophiſchen Literatur ſpricht ſich die Unfähigkeit aus, Experi-
mente einfach mit geſundem Menſchenverſtand zu beurtheilen;
überall wird in den Erfolg der Verſuche Etwas hineingedichtet,
was nicht in der entfernteſten Beziehung zu den Bedingungen
und Ergebniſſen derſelben ſteht.

Ganz anders verhielt es ſich dagegen mit den von Bern-
hardi 1811, von Girou 1828-30, und von Ramiſch 1837
ausgeſprochenen Zweifeln. Sie machten Verſuche und beurtheilten
ſie im Sinne naturwiſſenſchaftlicher Forſchung; nur waren ſie
weder mit den nöthigen Kenntniſſen eingeleitet, noch mit aus-
reichenden Vorſichtsmaßregeln durchgeführt; auch fehlte es dieſen
Männern an genügender Literaturkenntniß. Schon im vorigen
Jahrhundert, ja ſelbſt ſchon von Camerarius und Ray war
auf das gelegentliche Vorkommen männlicher Blüthen an weib-
lichen Pflanzen von Spinat, Hanf, Mercurialis hingewieſen
worden und doch experimentirten die Genannten gerade wieder
mit dieſen, ohne das etwaige Auftreten männlicher Blüthen an
den weiblichen Verſuchspflanzen oder andere Beſtäubungsgelegen-
heiten ſorgfältig genug auszuſchließen.

So regten ſich noch bis tief in die dreißiger Jahre hinein
Zweifel an der Sexualität der Pflanzen überhaupt oder doch
an ihrer allgemeinen Giltigkeit bei den Phanerogamen; denn
von den Kryptogamen war zunächſt keine Rede, ſie galten trotz
mancher werthvollen Wahrnehmungen früherer Zeit für ge-
ſchlechtslos. Uebrigens wurde von der großen Mehrzahl der
Botaniker an der ſexuellen Bedeutung der Blüthenorgane nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0472" n="460"/><fw place="top" type="header">Ge&#x017F;chichte der Sexualtheorie.</fw><lb/>
(Flora 1822 <hi rendition="#aq">p.</hi> 49) und C. L. Treviranus, der 1822 eine um-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ende Widerlegung Hen&#x017F;chel's: &#x201E;die Lehre von dem Ge&#x017F;chlecht<lb/>
der Pflanzen in Bezug auf die neue&#x017F;ten Angriffe erwogen&#x201C;<lb/>
herausgab. Dagegen fanden &#x017F;ich einzelne Nachzügler jener krank-<lb/>
haften philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Richtung auch &#x017F;päter noch; &#x017F;o z. B. J. B.<lb/>
Wilbrand, Profe&#x017F;&#x017F;or in Gießen, welcher noch 1830 (Flora <hi rendition="#aq">p.</hi> 585)<lb/>
in &#x017F;ehr &#x017F;ubtiler Unter&#x017F;cheidung annahm, daß bei den Pflanzen<lb/>
zwar etwas der thieri&#x017F;chen Sexualität &#x201E;Analoges&#x201C;, aber keines-<lb/>
wegs wirkliche Sexualität &#x017F;tattfinde. In die&#x017F;er ganzen natur-<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Literatur &#x017F;pricht &#x017F;ich die Unfähigkeit aus, Experi-<lb/>
mente einfach mit ge&#x017F;undem Men&#x017F;chenver&#x017F;tand zu beurtheilen;<lb/>
überall wird in den Erfolg der Ver&#x017F;uche Etwas hineingedichtet,<lb/>
was nicht in der entfernte&#x017F;ten Beziehung zu den Bedingungen<lb/>
und Ergebni&#x017F;&#x017F;en der&#x017F;elben &#x017F;teht.</p><lb/>
            <p>Ganz anders verhielt es &#x017F;ich dagegen mit den von Bern-<lb/>
hardi 1811, von <hi rendition="#g">Girou</hi> 1828-30, und von Rami&#x017F;ch 1837<lb/>
ausge&#x017F;prochenen Zweifeln. Sie machten Ver&#x017F;uche und beurtheilten<lb/>
&#x017F;ie im Sinne naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher For&#x017F;chung; nur waren &#x017F;ie<lb/>
weder mit den nöthigen Kenntni&#x017F;&#x017F;en eingeleitet, noch mit aus-<lb/>
reichenden Vor&#x017F;ichtsmaßregeln durchgeführt; auch fehlte es die&#x017F;en<lb/>
Männern an genügender Literaturkenntniß. Schon im vorigen<lb/>
Jahrhundert, ja &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon von Camerarius und Ray war<lb/>
auf das gelegentliche Vorkommen männlicher Blüthen an weib-<lb/>
lichen Pflanzen von Spinat, Hanf, Mercurialis hingewie&#x017F;en<lb/>
worden und doch experimentirten die Genannten gerade wieder<lb/>
mit die&#x017F;en, ohne das etwaige Auftreten männlicher Blüthen an<lb/>
den weiblichen Ver&#x017F;uchspflanzen oder andere Be&#x017F;täubungsgelegen-<lb/>
heiten &#x017F;orgfältig genug auszu&#x017F;chließen.</p><lb/>
            <p>So regten &#x017F;ich noch bis tief in die dreißiger Jahre hinein<lb/>
Zweifel an der Sexualität der Pflanzen überhaupt oder doch<lb/>
an ihrer allgemeinen Giltigkeit bei den Phanerogamen; denn<lb/>
von den Kryptogamen war zunäch&#x017F;t keine Rede, &#x017F;ie galten trotz<lb/>
mancher werthvollen Wahrnehmungen früherer Zeit für ge-<lb/>
&#x017F;chlechtslos. Uebrigens wurde von der großen Mehrzahl der<lb/>
Botaniker an der &#x017F;exuellen Bedeutung der Blüthenorgane nicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[460/0472] Geſchichte der Sexualtheorie. (Flora 1822 p. 49) und C. L. Treviranus, der 1822 eine um- faſſende Widerlegung Henſchel's: „die Lehre von dem Geſchlecht der Pflanzen in Bezug auf die neueſten Angriffe erwogen“ herausgab. Dagegen fanden ſich einzelne Nachzügler jener krank- haften philoſophiſchen Richtung auch ſpäter noch; ſo z. B. J. B. Wilbrand, Profeſſor in Gießen, welcher noch 1830 (Flora p. 585) in ſehr ſubtiler Unterſcheidung annahm, daß bei den Pflanzen zwar etwas der thieriſchen Sexualität „Analoges“, aber keines- wegs wirkliche Sexualität ſtattfinde. In dieſer ganzen natur- philoſophiſchen Literatur ſpricht ſich die Unfähigkeit aus, Experi- mente einfach mit geſundem Menſchenverſtand zu beurtheilen; überall wird in den Erfolg der Verſuche Etwas hineingedichtet, was nicht in der entfernteſten Beziehung zu den Bedingungen und Ergebniſſen derſelben ſteht. Ganz anders verhielt es ſich dagegen mit den von Bern- hardi 1811, von Girou 1828-30, und von Ramiſch 1837 ausgeſprochenen Zweifeln. Sie machten Verſuche und beurtheilten ſie im Sinne naturwiſſenſchaftlicher Forſchung; nur waren ſie weder mit den nöthigen Kenntniſſen eingeleitet, noch mit aus- reichenden Vorſichtsmaßregeln durchgeführt; auch fehlte es dieſen Männern an genügender Literaturkenntniß. Schon im vorigen Jahrhundert, ja ſelbſt ſchon von Camerarius und Ray war auf das gelegentliche Vorkommen männlicher Blüthen an weib- lichen Pflanzen von Spinat, Hanf, Mercurialis hingewieſen worden und doch experimentirten die Genannten gerade wieder mit dieſen, ohne das etwaige Auftreten männlicher Blüthen an den weiblichen Verſuchspflanzen oder andere Beſtäubungsgelegen- heiten ſorgfältig genug auszuſchließen. So regten ſich noch bis tief in die dreißiger Jahre hinein Zweifel an der Sexualität der Pflanzen überhaupt oder doch an ihrer allgemeinen Giltigkeit bei den Phanerogamen; denn von den Kryptogamen war zunächſt keine Rede, ſie galten trotz mancher werthvollen Wahrnehmungen früherer Zeit für ge- ſchlechtslos. Uebrigens wurde von der großen Mehrzahl der Botaniker an der ſexuellen Bedeutung der Blüthenorgane nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/472
Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/472>, abgerufen am 22.11.2024.