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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
wenigstens ebensoviele Zwitterblumen Dichogamisten sind, so
scheint die Natur es nicht haben zu wollen, daß irgend eine
Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werden solle." Das
war indessen nur eines der merkwürdigsten Resultate, vielleicht
noch wichtiger war das Theorem, daß die ganze Gestalt und
alle Eigenschaften einer Blüthe überhaupt nur aus ihren Bezieh-
ungen zu den sie besuchenden und sie bestäubenden Insecten ver-
standen werden könne; der erste Versuch, die Entstehung organi-
scher Formen aus bestimmten Beziehungen zu ihrer Umgebung
zu erklären. Seit Darwin diesen Gedanken durch die Selec-
tionstheorie neu belebt hat, ist er zugleich eine der wesentlichsten
Stützen dieser letzteren geworden.

Es ist anziehend zu lesen, wie der sinnige Mann aus an-
scheinend ganz unbedeutenden, für Jedermann offen daliegenden
Structurverhältnissen der Blüthen zuerst auf Gedanken kam, die
ihn im Verfolg weniger Jahre zu so weittragenden Ergebnissen
führen sollten. "Als ich im Sommer 1787, sagt Sprengel,
die Blumen des Waldstorchschnabels (Geranium silvaticum)
aufmerksam betrachtete, so fand ich, daß der unterste Theil ihrer
Kronenblätter auf der inneren Seite und an den beiden Rändern
mit feinen und rauhen Haaren versehen war. Ueberzeugt, daß der
weise Urheber der Natur auch nicht ein einziges Härchen ohne eine
gewisse Absicht hervorgebracht hat, dachte ich darüber nach, wozu
denn wohl diese Haare dienen möchten. Und hier fiel mir bald
ein, daß, wenn man voraussetze, daß die fünf Safttröpfchen,
welche von eben so vielen Drüsen abgesondert werden, gewissen
Insecten zur Nahrung bestimmt seien, man es zugleich nicht un-
wahrscheinlich finden müßte, daß dafür gesorgt sei, daß dieser
Saft nicht vom Regen verdorben werde und daß zur Erreichung
dieser Absicht diese Haare hier angebracht seien. Da die Blume
aufrecht steht und ziemlich groß ist, so müssen, wenn es regnet,
Regentropfen in dieselbe hineinfallen. Es kann aber keiner von
den hineingefallenen Regentropfen zu einem Safttröpfchen ge-
langen und sich mit demselben vermischen, indem er von den
Haaren, welche sich über den Safttröpfchen befinden, aufgehalten

Sachs, Geschichte der Botanik. 29

Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc.
wenigſtens ebenſoviele Zwitterblumen Dichogamiſten ſind, ſo
ſcheint die Natur es nicht haben zu wollen, daß irgend eine
Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werden ſolle.“ Das
war indeſſen nur eines der merkwürdigſten Reſultate, vielleicht
noch wichtiger war das Theorem, daß die ganze Geſtalt und
alle Eigenſchaften einer Blüthe überhaupt nur aus ihren Bezieh-
ungen zu den ſie beſuchenden und ſie beſtäubenden Inſecten ver-
ſtanden werden könne; der erſte Verſuch, die Entſtehung organi-
ſcher Formen aus beſtimmten Beziehungen zu ihrer Umgebung
zu erklären. Seit Darwin dieſen Gedanken durch die Selec-
tionstheorie neu belebt hat, iſt er zugleich eine der weſentlichſten
Stützen dieſer letzteren geworden.

Es iſt anziehend zu leſen, wie der ſinnige Mann aus an-
ſcheinend ganz unbedeutenden, für Jedermann offen daliegenden
Structurverhältniſſen der Blüthen zuerſt auf Gedanken kam, die
ihn im Verfolg weniger Jahre zu ſo weittragenden Ergebniſſen
führen ſollten. „Als ich im Sommer 1787, ſagt Sprengel,
die Blumen des Waldſtorchſchnabels (Geranium silvaticum)
aufmerkſam betrachtete, ſo fand ich, daß der unterſte Theil ihrer
Kronenblätter auf der inneren Seite und an den beiden Rändern
mit feinen und rauhen Haaren verſehen war. Ueberzeugt, daß der
weiſe Urheber der Natur auch nicht ein einziges Härchen ohne eine
gewiſſe Abſicht hervorgebracht hat, dachte ich darüber nach, wozu
denn wohl dieſe Haare dienen möchten. Und hier fiel mir bald
ein, daß, wenn man vorausſetze, daß die fünf Safttröpfchen,
welche von eben ſo vielen Drüſen abgeſondert werden, gewiſſen
Inſecten zur Nahrung beſtimmt ſeien, man es zugleich nicht un-
wahrſcheinlich finden müßte, daß dafür geſorgt ſei, daß dieſer
Saft nicht vom Regen verdorben werde und daß zur Erreichung
dieſer Abſicht dieſe Haare hier angebracht ſeien. Da die Blume
aufrecht ſteht und ziemlich groß iſt, ſo müſſen, wenn es regnet,
Regentropfen in dieſelbe hineinfallen. Es kann aber keiner von
den hineingefallenen Regentropfen zu einem Safttröpfchen ge-
langen und ſich mit demſelben vermiſchen, indem er von den
Haaren, welche ſich über den Safttröpfchen befinden, aufgehalten

Sachs, Geſchichte der Botanik. 29
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[449/0461] Weiterer Ausbau der Sexualtheorie etc. etc. wenigſtens ebenſoviele Zwitterblumen Dichogamiſten ſind, ſo ſcheint die Natur es nicht haben zu wollen, daß irgend eine Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werden ſolle.“ Das war indeſſen nur eines der merkwürdigſten Reſultate, vielleicht noch wichtiger war das Theorem, daß die ganze Geſtalt und alle Eigenſchaften einer Blüthe überhaupt nur aus ihren Bezieh- ungen zu den ſie beſuchenden und ſie beſtäubenden Inſecten ver- ſtanden werden könne; der erſte Verſuch, die Entſtehung organi- ſcher Formen aus beſtimmten Beziehungen zu ihrer Umgebung zu erklären. Seit Darwin dieſen Gedanken durch die Selec- tionstheorie neu belebt hat, iſt er zugleich eine der weſentlichſten Stützen dieſer letzteren geworden. Es iſt anziehend zu leſen, wie der ſinnige Mann aus an- ſcheinend ganz unbedeutenden, für Jedermann offen daliegenden Structurverhältniſſen der Blüthen zuerſt auf Gedanken kam, die ihn im Verfolg weniger Jahre zu ſo weittragenden Ergebniſſen führen ſollten. „Als ich im Sommer 1787, ſagt Sprengel, die Blumen des Waldſtorchſchnabels (Geranium silvaticum) aufmerkſam betrachtete, ſo fand ich, daß der unterſte Theil ihrer Kronenblätter auf der inneren Seite und an den beiden Rändern mit feinen und rauhen Haaren verſehen war. Ueberzeugt, daß der weiſe Urheber der Natur auch nicht ein einziges Härchen ohne eine gewiſſe Abſicht hervorgebracht hat, dachte ich darüber nach, wozu denn wohl dieſe Haare dienen möchten. Und hier fiel mir bald ein, daß, wenn man vorausſetze, daß die fünf Safttröpfchen, welche von eben ſo vielen Drüſen abgeſondert werden, gewiſſen Inſecten zur Nahrung beſtimmt ſeien, man es zugleich nicht un- wahrſcheinlich finden müßte, daß dafür geſorgt ſei, daß dieſer Saft nicht vom Regen verdorben werde und daß zur Erreichung dieſer Abſicht dieſe Haare hier angebracht ſeien. Da die Blume aufrecht ſteht und ziemlich groß iſt, ſo müſſen, wenn es regnet, Regentropfen in dieſelbe hineinfallen. Es kann aber keiner von den hineingefallenen Regentropfen zu einem Safttröpfchen ge- langen und ſich mit demſelben vermiſchen, indem er von den Haaren, welche ſich über den Safttröpfchen befinden, aufgehalten Sachs, Geſchichte der Botanik. 29

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/461>, abgerufen am 22.11.2024.