erkannt hatten, daß in dem Wesen jedes organischen Individuums zwei ganz verschiedene Principien vereinigt sind, daß einerseits die Zahl, Anordnung und Entwicklungsgeschichte der Organe der einen Species auf die entsprechenden Verhältnisse zahlreicher anderer Species hinweist, während die Lebensweise und dem entsprechend die Anpassung derselben Organe bei diesen verwandten Species eine ganz verschiedene sein kann; diese Thatsache läßt keine andere Erklärung zu, als die durch die Descendenztheorie gegebene; sie ist daher die historische Ursache und logisch genom- men die stärkste Stütze der Descendenztheorie. Diese selbst ist ganz unmittelbar aus den Ergebnissen abgeleitet, welche die Bestrebungen der Systematiker zu Tage gefördert hatten. Daß aber gerade die Mehrzahl der Systematiker selbst sich wenigstens anfangs ganz entschieden gegen die Descendenztheorie erklärten, kann nicht überraschen, wenn man beachtet, daß sie sich über ihr eigenes Thun und Treiben so wenig Rechenschaft zu geben wuß- ten, wie dieß in den theoretischen Betrachtungen Lindley's so auffallend hervortritt.
Eine Folge dieser Unklarheit verbunden mit dem Dogma der Constanz der Arten war, wie schon in der Einleitung ange- deutet wurde, die Annahme, daß jeder Verwandtschaftsgruppe eine Idee zu Grunde liege, daß das natürliche System ein Bild des Schöpfungsplanes selbst sei, wie Lindley, Elias Fries und Andere ganz unumwunden bekannten. Wie aber ein solcher Schöpfungsplan die wunderliche Thatsache erklären könne, daß die physiologischen Anpassungen der Organe an die Lebensbedin- gungen so ganz und gar Nichts zu thun haben mit ihrer syste- matischen Verwandtschaft, das ließ man ruhig auf sich beruhen und in der That konnte auch die auf platonisch aristotelische Philosophie gegründete Annahme eines Schöpfungsplanes und idealer Grundformen, welche den systematischen Gruppen zu Grunde liegen, jene Discordanz zwischen morphologischen und physiologischen Eigenschaften nicht erklären. Es wäre sehr leicht, die Ansicht der Systematiker, daß das System einen Schöpfungs- plan repräsentire, zu beweisen, wenn überall die physiologischen
Dogma von der Conſtanz der Arten
erkannt hatten, daß in dem Weſen jedes organiſchen Individuums zwei ganz verſchiedene Principien vereinigt ſind, daß einerſeits die Zahl, Anordnung und Entwicklungsgeſchichte der Organe der einen Species auf die entſprechenden Verhältniſſe zahlreicher anderer Species hinweiſt, während die Lebensweiſe und dem entſprechend die Anpaſſung derſelben Organe bei dieſen verwandten Species eine ganz verſchiedene ſein kann; dieſe Thatſache läßt keine andere Erklärung zu, als die durch die Deſcendenztheorie gegebene; ſie iſt daher die hiſtoriſche Urſache und logiſch genom- men die ſtärkſte Stütze der Deſcendenztheorie. Dieſe ſelbſt iſt ganz unmittelbar aus den Ergebniſſen abgeleitet, welche die Beſtrebungen der Syſtematiker zu Tage gefördert hatten. Daß aber gerade die Mehrzahl der Syſtematiker ſelbſt ſich wenigſtens anfangs ganz entſchieden gegen die Deſcendenztheorie erklärten, kann nicht überraſchen, wenn man beachtet, daß ſie ſich über ihr eigenes Thun und Treiben ſo wenig Rechenſchaft zu geben wuß- ten, wie dieß in den theoretiſchen Betrachtungen Lindley's ſo auffallend hervortritt.
Eine Folge dieſer Unklarheit verbunden mit dem Dogma der Conſtanz der Arten war, wie ſchon in der Einleitung ange- deutet wurde, die Annahme, daß jeder Verwandtſchaftsgruppe eine Idee zu Grunde liege, daß das natürliche Syſtem ein Bild des Schöpfungsplanes ſelbſt ſei, wie Lindley, Elias Fries und Andere ganz unumwunden bekannten. Wie aber ein ſolcher Schöpfungsplan die wunderliche Thatſache erklären könne, daß die phyſiologiſchen Anpaſſungen der Organe an die Lebensbedin- gungen ſo ganz und gar Nichts zu thun haben mit ihrer ſyſte- matiſchen Verwandtſchaft, das ließ man ruhig auf ſich beruhen und in der That konnte auch die auf platoniſch ariſtoteliſche Philoſophie gegründete Annahme eines Schöpfungsplanes und idealer Grundformen, welche den ſyſtematiſchen Gruppen zu Grunde liegen, jene Diſcordanz zwiſchen morphologiſchen und phyſiologiſchen Eigenſchaften nicht erklären. Es wäre ſehr leicht, die Anſicht der Syſtematiker, daß das Syſtem einen Schöpfungs- plan repräſentire, zu beweiſen, wenn überall die phyſiologiſchen
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Dogma von der Conſtanz der Arten
erkannt hatten, daß in dem Weſen jedes organiſchen Individuums
zwei ganz verſchiedene Principien vereinigt ſind, daß einerſeits
die Zahl, Anordnung und Entwicklungsgeſchichte der Organe der
einen Species auf die entſprechenden Verhältniſſe zahlreicher
anderer Species hinweiſt, während die Lebensweiſe und dem
entſprechend die Anpaſſung derſelben Organe bei dieſen verwandten
Species eine ganz verſchiedene ſein kann; dieſe Thatſache läßt
keine andere Erklärung zu, als die durch die Deſcendenztheorie
gegebene; ſie iſt daher die hiſtoriſche Urſache und logiſch genom-
men die ſtärkſte Stütze der Deſcendenztheorie. Dieſe ſelbſt iſt
ganz unmittelbar aus den Ergebniſſen abgeleitet, welche die
Beſtrebungen der Syſtematiker zu Tage gefördert hatten. Daß
aber gerade die Mehrzahl der Syſtematiker ſelbſt ſich wenigſtens
anfangs ganz entſchieden gegen die Deſcendenztheorie erklärten,
kann nicht überraſchen, wenn man beachtet, daß ſie ſich über ihr
eigenes Thun und Treiben ſo wenig Rechenſchaft zu geben wuß-
ten, wie dieß in den theoretiſchen Betrachtungen Lindley's ſo
auffallend hervortritt.
Eine Folge dieſer Unklarheit verbunden mit dem Dogma
der Conſtanz der Arten war, wie ſchon in der Einleitung ange-
deutet wurde, die Annahme, daß jeder Verwandtſchaftsgruppe
eine Idee zu Grunde liege, daß das natürliche Syſtem ein Bild
des Schöpfungsplanes ſelbſt ſei, wie Lindley, Elias Fries
und Andere ganz unumwunden bekannten. Wie aber ein ſolcher
Schöpfungsplan die wunderliche Thatſache erklären könne, daß
die phyſiologiſchen Anpaſſungen der Organe an die Lebensbedin-
gungen ſo ganz und gar Nichts zu thun haben mit ihrer ſyſte-
matiſchen Verwandtſchaft, das ließ man ruhig auf ſich beruhen
und in der That konnte auch die auf platoniſch ariſtoteliſche
Philoſophie gegründete Annahme eines Schöpfungsplanes und
idealer Grundformen, welche den ſyſtematiſchen Gruppen zu
Grunde liegen, jene Diſcordanz zwiſchen morphologiſchen und
phyſiologiſchen Eigenſchaften nicht erklären. Es wäre ſehr leicht,
die Anſicht der Syſtematiker, daß das Syſtem einen Schöpfungs-
plan repräſentire, zu beweiſen, wenn überall die phyſiologiſchen
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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/177>, abgerufen am 16.02.2025.
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