Man hat bei dieser auf Caesalpin gegründeten Meta- morphosenlehre Linne's als Hauptsatz das im Auge zu behalten, daß die gewöhnlichen Blätter mit den äußeren Blüthentheilen deßhalb identisch sind, weil beide aus den äußeren Gewebeschichten des Stammes entstehen. Die so nahe liegende und auch ohne Mikroskop leicht zu beobachtende Thatsache, daß die concentrische Anordnung von Rinde, Bast, Holz und Mark nur bei einem Theile von Blüthenpflanzen vorkommt, daß bei den Monokotylen die Sache sich ganz anders verhält, daß bei diesen also Caesal- pin's Blüthentheorie keine rechte Anwendung mehr zuläßt, diese Erwägungen darf man bei Linne's ganzer Denkweise überhaupt nicht erwarten.
Der Mangel fester empirischer Anhaltspunkte zeigt sich auch darin, daß er neben seiner Caesalpin'schen Blüthentheorie auch noch eine ganz andere, mit dieser kaum zu vereinigende Anschauung vom Wesen der Blüthe verband, welche unter dem Namen der prolepsis plantarum in zwei Dissertationen unter Linne's Präsidium 1760 und 1763 dargestellt wurde. Während in der Philosophia botanica der letzte Satz lautet: Flos ex gemma annuo spatio, foliis praecocior est; wird in jenen Dissertationen 1) die Lehre entwickelt, die Blüthe sei Nichts als das gleichzeitige Erscheinen von Blättern, die eigentlich den Knospenbildungen von sechs auf einander folgenden Jahren an- gehören, so zwar, daß die Blätter der für das zweite Jahr der Pflanze zur Entwicklung bestimmten Knospe zu Bracteen, die Blätter des dritten Jahres zum Kelch, die des vierten zur Co- rolle, die des fünften zu Staubfäden, die des sechsten zum Pistill werden. Auch hier sieht man wieder, wie Linne sich in willkürlichen Annahmen bewegt, ohne im Geringsten Rücksicht auf die genaue Beobachtung zu nehmen, denn dieser ganzen Pro- lepsistheorie liegt Nichts zu Grunde, was man eine wohl kon- statirte Thatsache nennen könnte.
1) Deren Inhalt ich jedoch nur aus Wigand's Kritik und Geschichte der Metamorphose 1846 kenne.
Der künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Man hat bei dieſer auf Caeſalpin gegründeten Meta- morphoſenlehre Linné's als Hauptſatz das im Auge zu behalten, daß die gewöhnlichen Blätter mit den äußeren Blüthentheilen deßhalb identiſch ſind, weil beide aus den äußeren Gewebeſchichten des Stammes entſtehen. Die ſo nahe liegende und auch ohne Mikroſkop leicht zu beobachtende Thatſache, daß die concentriſche Anordnung von Rinde, Baſt, Holz und Mark nur bei einem Theile von Blüthenpflanzen vorkommt, daß bei den Monokotylen die Sache ſich ganz anders verhält, daß bei dieſen alſo Caeſal- pin's Blüthentheorie keine rechte Anwendung mehr zuläßt, dieſe Erwägungen darf man bei Linné's ganzer Denkweiſe überhaupt nicht erwarten.
Der Mangel feſter empiriſcher Anhaltspunkte zeigt ſich auch darin, daß er neben ſeiner Caeſalpin'ſchen Blüthentheorie auch noch eine ganz andere, mit dieſer kaum zu vereinigende Anſchauung vom Weſen der Blüthe verband, welche unter dem Namen der prolepsis plantarum in zwei Diſſertationen unter Linné's Präſidium 1760 und 1763 dargeſtellt wurde. Während in der Philosophia botanica der letzte Satz lautet: Flos ex gemma annuo spatio, foliis praecocior est; wird in jenen Diſſertationen 1) die Lehre entwickelt, die Blüthe ſei Nichts als das gleichzeitige Erſcheinen von Blättern, die eigentlich den Knoſpenbildungen von ſechs auf einander folgenden Jahren an- gehören, ſo zwar, daß die Blätter der für das zweite Jahr der Pflanze zur Entwicklung beſtimmten Knoſpe zu Bracteen, die Blätter des dritten Jahres zum Kelch, die des vierten zur Co- rolle, die des fünften zu Staubfäden, die des ſechsten zum Piſtill werden. Auch hier ſieht man wieder, wie Linné ſich in willkürlichen Annahmen bewegt, ohne im Geringſten Rückſicht auf die genaue Beobachtung zu nehmen, denn dieſer ganzen Pro- lepſistheorie liegt Nichts zu Grunde, was man eine wohl kon- ſtatirte Thatſache nennen könnte.
1) Deren Inhalt ich jedoch nur aus Wigand's Kritik und Geſchichte der Metamorphoſe 1846 kenne.
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Der künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Man hat bei dieſer auf Caeſalpin gegründeten Meta-
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deßhalb identiſch ſind, weil beide aus den äußeren Gewebeſchichten
des Stammes entſtehen. Die ſo nahe liegende und auch ohne
Mikroſkop leicht zu beobachtende Thatſache, daß die concentriſche
Anordnung von Rinde, Baſt, Holz und Mark nur bei einem
Theile von Blüthenpflanzen vorkommt, daß bei den Monokotylen
die Sache ſich ganz anders verhält, daß bei dieſen alſo Caeſal-
pin's Blüthentheorie keine rechte Anwendung mehr zuläßt, dieſe
Erwägungen darf man bei Linné's ganzer Denkweiſe überhaupt
nicht erwarten.
Der Mangel feſter empiriſcher Anhaltspunkte zeigt ſich
auch darin, daß er neben ſeiner Caeſalpin'ſchen Blüthentheorie
auch noch eine ganz andere, mit dieſer kaum zu vereinigende
Anſchauung vom Weſen der Blüthe verband, welche unter dem
Namen der prolepsis plantarum in zwei Diſſertationen unter
Linné's Präſidium 1760 und 1763 dargeſtellt wurde. Während
in der Philosophia botanica der letzte Satz lautet: Flos ex
gemma annuo spatio, foliis praecocior est; wird in jenen
Diſſertationen 1) die Lehre entwickelt, die Blüthe ſei Nichts als
das gleichzeitige Erſcheinen von Blättern, die eigentlich den
Knoſpenbildungen von ſechs auf einander folgenden Jahren an-
gehören, ſo zwar, daß die Blätter der für das zweite Jahr der
Pflanze zur Entwicklung beſtimmten Knoſpe zu Bracteen, die
Blätter des dritten Jahres zum Kelch, die des vierten zur Co-
rolle, die des fünften zu Staubfäden, die des ſechsten zum Piſtill
werden. Auch hier ſieht man wieder, wie Linné ſich in
willkürlichen Annahmen bewegt, ohne im Geringſten Rückſicht
auf die genaue Beobachtung zu nehmen, denn dieſer ganzen Pro-
lepſistheorie liegt Nichts zu Grunde, was man eine wohl kon-
ſtatirte Thatſache nennen könnte.
1) Deren Inhalt ich jedoch nur aus Wigand's Kritik und Geſchichte
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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/124>, abgerufen am 22.11.2024.
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