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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Die künstlichen Systeme und die Nomenclatur
Aber auch ein großer Irrthum lief mitunter, der nicht wenig
dazu beigetragen hat, Linne's Ruhm zu vermehren.
Linne
nannte sein künstliches auf die Zahl, Verwachsung und Gruppirung
der Staubgefäße und Carpelle gegründetes System das Sexual-
System der Pflanzen, indem er die vermeintliche Vorzüglichkeit
desselben darin fand, daß es auf Organe gegründet sei, deren
Function die allergrößte Bedeutung beansprucht. Es liegt aber
auf der Hand, daß das Linne'sche Sexualsystem genau den-
selben classificatorischen Werth haben würde, wenn die Staub-
gefäße mit der Fortpflanzung gar nichts zu thun hätten oder
wenn die sexuelle Bedeutung derselben ganz unbekannt wäre.
Denn gerade diejenigen Merkmale der Staubgefäße, welche
Linne classificatorisch verwerthet, ihre Zahl und Verwachsungs-
weise sind für die Sexualfunction selbst völlig gleichgiltig.

Wenn daher die Bedeutung dieses künstlichen Systems für
die Lehre von der Sexualität der Pflanzen auf einer Verschiebung
und Verwirrung von Begriffen beruht, so ist zugleich hervorzu-
heben, daß überhaupt der Verfolg der Wissenschaft gezeigt hat,
wie Linne's Sexualsystem gerade deßhalb, weil die von ihm
benutzten Eigenschaften der Staubgefäße von ihrer Function ganz
unabhängig sind, vielfach zur Aufstellung natürlicher Gruppen
führen mußte, denn wir dürfen es als ein wichtiges Ergebniß
betrachten, daß den größten classificatorischen Werth diejenigen
Eigenschaften der Organismen darbieten, welche von den Func-
tionen der Organe ganz oder zum größten Theile unabhängig
sind. Derselbe Irrthum, welcher Caesalpin dazu veranlaßte,
die functionelle Wichtigkeit der Fructificationstheile zum Princip
der Eintheilung zu machen, kehrt also bei Linne in anderer
Form wieder: um ein Eintheilungsprincip zu finden, wendet er
sich an diejenigen Organe, deren Function ihm die wichtigste
scheint, er nimmt aber die Merkmale nicht etwa von den Ver-
schiedenheiten der Function, sondern von der Zahl und Verwachsungs-
weise, welche für die Sexualfunction ganz gleichgültig ist. Ganz
demselben Irrthum begegnen wir übrigens auch bei Leibnitz
und Burkhard, die ich hier nur deßhalb erwähne, um Linne

Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
Aber auch ein großer Irrthum lief mitunter, der nicht wenig
dazu beigetragen hat, Linné's Ruhm zu vermehren.
Linné
nannte ſein künſtliches auf die Zahl, Verwachſung und Gruppirung
der Staubgefäße und Carpelle gegründetes Syſtem das Sexual-
Syſtem der Pflanzen, indem er die vermeintliche Vorzüglichkeit
desſelben darin fand, daß es auf Organe gegründet ſei, deren
Function die allergrößte Bedeutung beanſprucht. Es liegt aber
auf der Hand, daß das Linné'ſche Sexualſyſtem genau den-
ſelben claſſificatoriſchen Werth haben würde, wenn die Staub-
gefäße mit der Fortpflanzung gar nichts zu thun hätten oder
wenn die ſexuelle Bedeutung derſelben ganz unbekannt wäre.
Denn gerade diejenigen Merkmale der Staubgefäße, welche
Linné claſſificatoriſch verwerthet, ihre Zahl und Verwachſungs-
weiſe ſind für die Sexualfunction ſelbſt völlig gleichgiltig.

Wenn daher die Bedeutung dieſes künſtlichen Syſtems für
die Lehre von der Sexualität der Pflanzen auf einer Verſchiebung
und Verwirrung von Begriffen beruht, ſo iſt zugleich hervorzu-
heben, daß überhaupt der Verfolg der Wiſſenſchaft gezeigt hat,
wie Linné's Sexualſyſtem gerade deßhalb, weil die von ihm
benutzten Eigenſchaften der Staubgefäße von ihrer Function ganz
unabhängig ſind, vielfach zur Aufſtellung natürlicher Gruppen
führen mußte, denn wir dürfen es als ein wichtiges Ergebniß
betrachten, daß den größten claſſificatoriſchen Werth diejenigen
Eigenſchaften der Organismen darbieten, welche von den Func-
tionen der Organe ganz oder zum größten Theile unabhängig
ſind. Derſelbe Irrthum, welcher Caeſalpin dazu veranlaßte,
die functionelle Wichtigkeit der Fructificationstheile zum Princip
der Eintheilung zu machen, kehrt alſo bei Linné in anderer
Form wieder: um ein Eintheilungsprincip zu finden, wendet er
ſich an diejenigen Organe, deren Function ihm die wichtigſte
ſcheint, er nimmt aber die Merkmale nicht etwa von den Ver-
ſchiedenheiten der Function, ſondern von der Zahl und Verwachſungs-
weiſe, welche für die Sexualfunction ganz gleichgültig iſt. Ganz
demſelben Irrthum begegnen wir übrigens auch bei Leibnitz
und Burkhard, die ich hier nur deßhalb erwähne, um Linné

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[88/0100] Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur Aber auch ein großer Irrthum lief mitunter, der nicht wenig dazu beigetragen hat, Linné's Ruhm zu vermehren. Linné nannte ſein künſtliches auf die Zahl, Verwachſung und Gruppirung der Staubgefäße und Carpelle gegründetes Syſtem das Sexual- Syſtem der Pflanzen, indem er die vermeintliche Vorzüglichkeit desſelben darin fand, daß es auf Organe gegründet ſei, deren Function die allergrößte Bedeutung beanſprucht. Es liegt aber auf der Hand, daß das Linné'ſche Sexualſyſtem genau den- ſelben claſſificatoriſchen Werth haben würde, wenn die Staub- gefäße mit der Fortpflanzung gar nichts zu thun hätten oder wenn die ſexuelle Bedeutung derſelben ganz unbekannt wäre. Denn gerade diejenigen Merkmale der Staubgefäße, welche Linné claſſificatoriſch verwerthet, ihre Zahl und Verwachſungs- weiſe ſind für die Sexualfunction ſelbſt völlig gleichgiltig. Wenn daher die Bedeutung dieſes künſtlichen Syſtems für die Lehre von der Sexualität der Pflanzen auf einer Verſchiebung und Verwirrung von Begriffen beruht, ſo iſt zugleich hervorzu- heben, daß überhaupt der Verfolg der Wiſſenſchaft gezeigt hat, wie Linné's Sexualſyſtem gerade deßhalb, weil die von ihm benutzten Eigenſchaften der Staubgefäße von ihrer Function ganz unabhängig ſind, vielfach zur Aufſtellung natürlicher Gruppen führen mußte, denn wir dürfen es als ein wichtiges Ergebniß betrachten, daß den größten claſſificatoriſchen Werth diejenigen Eigenſchaften der Organismen darbieten, welche von den Func- tionen der Organe ganz oder zum größten Theile unabhängig ſind. Derſelbe Irrthum, welcher Caeſalpin dazu veranlaßte, die functionelle Wichtigkeit der Fructificationstheile zum Princip der Eintheilung zu machen, kehrt alſo bei Linné in anderer Form wieder: um ein Eintheilungsprincip zu finden, wendet er ſich an diejenigen Organe, deren Function ihm die wichtigſte ſcheint, er nimmt aber die Merkmale nicht etwa von den Ver- ſchiedenheiten der Function, ſondern von der Zahl und Verwachſungs- weiſe, welche für die Sexualfunction ganz gleichgültig iſt. Ganz demſelben Irrthum begegnen wir übrigens auch bei Leibnitz und Burkhard, die ich hier nur deßhalb erwähne, um Linné

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/100>, abgerufen am 23.11.2024.