"Eilen Sie doch nicht so, bester Doctor", sagte mein Freund; "bleiben Sie noch ein wenig bei uns."
"Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin der Schwestern, die hier im Hause den Dienst der Kranken¬ pflege versehen -- und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen muß. Denn dazu ist vor Allem Disciplin nothwendig, und diese läßt sich dem geistlichen Völklein nicht absprechen. Schwei¬ gen und gehorchen, das heißt, seinen Vorgesetzten gegenüber, hat es gelernt. Zudem ist die Oberin eine vortreffliche, ja geradezu wundervolle Persönlichkeit; sie hat sich schon im Directionszimmer eingefunden und ich lasse mir das Vergnü¬ gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankensäle anzuschließen. Wissen Sie", fuhr der Doctor nach einer klei¬ nen Pause fort, "wer sie eigentlich ist? Eine Tochter des alten Erzaristokraten und Finsterlings Reichegg, der ein so trauriges Andenken hinterlassen hat. Aber auf sie ist das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldsamkeit; eine ächte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe -- und jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man sie selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben" -- er deutete mit dem Finger nach der Stirn -- "sieht es sehr respectabel aus. So Mancher, der sich auf den Gelehrten hinaus spielt und Bücher schreibt, müßte sich vor ihr verkrie¬ chen. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es
18*
„Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“
„Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬ pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬ gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber, hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬ gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬ nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“ — er deutete mit dem Finger nach der Stirn — „ſieht es ſehr reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬ chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es
18*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0291"n="275"/><p>„Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein<lb/>
Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“</p><lb/><p>„Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin<lb/>
der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬<lb/>
pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen<lb/>
muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und<lb/>
dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬<lb/>
gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber,<lb/>
hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja<lb/>
geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im<lb/>
Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬<lb/>
gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle<lb/>
anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬<lb/>
nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des<lb/>
alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo<lb/>
trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das<lb/>
Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme<lb/>
fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine<lb/>
ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und<lb/>
jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie<lb/>ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“— er<lb/>
deutete mit dem Finger nach der Stirn —„ſieht es ſehr<lb/>
reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten<lb/>
hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬<lb/>
chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es<lb/><fwplace="bottom"type="sig">18*<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[275/0291]
„Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor“, ſagte mein
Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“
„Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin
der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬
pflege verſehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen
muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und
dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬
gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber,
hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja
geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im
Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬
gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle
anzuſchließen. Wiſſen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬
nen Pauſe fort, „wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des
alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo
trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das
Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme
fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine
ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe — und
jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie
ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben“ — er
deutete mit dem Finger nach der Stirn — „ſieht es ſehr
reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten
hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬
chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es
18*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/291>, abgerufen am 20.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.