So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬ morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier besucht und mich dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, stieg ich in einen gemeinschaftlichen Wagen und -- befand mich der Geigerin gegenüber. Ich hatte sie auf den ersten Blick wieder erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm. Eine etwas fahle Gesichtsfarbe und leichte Fältchen um den blassen Mund traten deutlich hervor, aber sie sah noch immer schön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen von weißem Mull, das frisch wie der gefallene Schnee von der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abstach, stand ihr reizend zu Gesicht. Mit aufrechtem Oberkörper saß sie da und hatte die schmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt, das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte sie unruhig auf ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der Stadt angelangt waren, ließ sie halten und sprang aus dem Wagen. Ich that unwillkürlich dasselbe, aber ich konnte ihr nicht folgen; denn sie ging so rasch, daß ich, um nicht aufzu¬ fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt bog sie in die Gasse ein, in welcher sich die öffentliche Pfand¬ leihanstalt befindet, und als ich meinen Schritt beschleunigte, konnte ich noch gewahren, wie sie in dem Thore dieses Ge¬
So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬ morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier beſucht und mich dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, ſtieg ich in einen gemeinſchaftlichen Wagen und — befand mich der Geigerin gegenüber. Ich hatte ſie auf den erſten Blick wieder erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm. Eine etwas fahle Geſichtsfarbe und leichte Fältchen um den blaſſen Mund traten deutlich hervor, aber ſie ſah noch immer ſchön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen von weißem Mull, das friſch wie der gefallene Schnee von der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abſtach, ſtand ihr reizend zu Geſicht. Mit aufrechtem Oberkörper ſaß ſie da und hatte die ſchmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt, das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte ſie unruhig auf ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der Stadt angelangt waren, ließ ſie halten und ſprang aus dem Wagen. Ich that unwillkürlich daſſelbe, aber ich konnte ihr nicht folgen; denn ſie ging ſo raſch, daß ich, um nicht aufzu¬ fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt bog ſie in die Gaſſe ein, in welcher ſich die öffentliche Pfand¬ leihanſtalt befindet, und als ich meinen Schritt beſchleunigte, konnte ich noch gewahren, wie ſie in dem Thore dieſes Ge¬
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So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬
morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier beſucht und mich
dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg
nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, ſtieg ich
in einen gemeinſchaftlichen Wagen und — befand mich der
Geigerin gegenüber. Ich hatte ſie auf den erſten Blick wieder
erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte
Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm.
Eine etwas fahle Geſichtsfarbe und leichte Fältchen um den
blaſſen Mund traten deutlich hervor, aber ſie ſah noch immer
ſchön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen
von weißem Mull, das friſch wie der gefallene Schnee von
der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abſtach, ſtand ihr
reizend zu Geſicht. Mit aufrechtem Oberkörper ſaß ſie da
und hatte die ſchmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt,
das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte ſie unruhig auf
ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als
dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der
Stadt angelangt waren, ließ ſie halten und ſprang aus dem
Wagen. Ich that unwillkürlich daſſelbe, aber ich konnte ihr
nicht folgen; denn ſie ging ſo raſch, daß ich, um nicht aufzu¬
fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt
bog ſie in die Gaſſe ein, in welcher ſich die öffentliche Pfand¬
leihanſtalt befindet, und als ich meinen Schritt beſchleunigte,
konnte ich noch gewahren, wie ſie in dem Thore dieſes Ge¬
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/220>, abgerufen am 24.11.2024.
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