aus jungen Fichtenschößlingen hervorsah. Nun hatte er es erreicht und setzte sich, da es noch früh war, auf den be¬ moos'ten Steinblock, der gleichsam als Betschemel davor lag. Tiefes, sonntägliches Schweigen umgab ihn; selbst die Bienen über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erschlossen, schienen nicht zu summen. Georg kam ein unwillkürliches Lauschen an, und wie er so recht in die Stille hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm' er ein leises, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber stellte sich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob sich, schritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen; auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. "Die will ich der Tertschka geben, wenn sie kommt", sagte er zu sich selbst, indem er auf den unbeabsichtigten Strauß sah, den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬ ges Farrenkraut ab und steckte es an seine Mütze, wo es sich, hin- und herschwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand und bald war Tertschka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegen geeilt war. "Da bin ich", sagte sie rasch athmend. "Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen lassen." Georg stand vor ihr und sah sie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das schlichte Haar frei ge¬ scheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des Halstuches sanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich
aus jungen Fichtenſchößlingen hervorſah. Nun hatte er es erreicht und ſetzte ſich, da es noch früh war, auf den be¬ mooſ'ten Steinblock, der gleichſam als Betſchemel davor lag. Tiefes, ſonntägliches Schweigen umgab ihn; ſelbſt die Bienen über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erſchloſſen, ſchienen nicht zu ſummen. Georg kam ein unwillkürliches Lauſchen an, und wie er ſo recht in die Stille hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm' er ein leiſes, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber ſtellte ſich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob ſich, ſchritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen; auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. „Die will ich der Tertſchka geben, wenn ſie kommt“, ſagte er zu ſich ſelbſt, indem er auf den unbeabſichtigten Strauß ſah, den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬ ges Farrenkraut ab und ſteckte es an ſeine Mütze, wo es ſich, hin- und herſchwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand und bald war Tertſchka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegen geeilt war. „Da bin ich“, ſagte ſie raſch athmend. „Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen laſſen.“ Georg ſtand vor ihr und ſah ſie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das ſchlichte Haar frei ge¬ ſcheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des Halstuches ſanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich
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aus jungen Fichtenſchößlingen hervorſah. Nun hatte er es
erreicht und ſetzte ſich, da es noch früh war, auf den be¬
mooſ'ten Steinblock, der gleichſam als Betſchemel davor lag.
Tiefes, ſonntägliches Schweigen umgab ihn; ſelbſt die Bienen
über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen
Kelche erſchloſſen, ſchienen nicht zu ſummen. Georg kam ein
unwillkürliches Lauſchen an, und wie er ſo recht in die Stille
hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm' er ein leiſes,
feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und
nach aber ſtellte ſich die Ungeduld des Erwartens ein. Er
erhob ſich, ſchritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen;
auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten.
„Die will ich der Tertſchka geben, wenn ſie kommt“, ſagte er
zu ſich ſelbſt, indem er auf den unbeabſichtigten Strauß ſah,
den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬
ges Farrenkraut ab und ſteckte es an ſeine Mütze, wo es ſich,
hin- und herſchwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm.
Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand
und bald war Tertſchka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte
des Steiges hinauf entgegen geeilt war. „Da bin ich“, ſagte
ſie raſch athmend. „Er hat mich diesmal ohne viel Worte
gehen laſſen.“ Georg ſtand vor ihr und ſah ſie an. Sie hatte
heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das ſchlichte Haar frei ge¬
ſcheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des
Halstuches ſanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/170>, abgerufen am 25.11.2024.
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