Eine der merkwürdigsten Eisenbahnbauten ist der Schienen¬ weg über den Semmering, einen Theil der norischen Alpen, welcher die Grenzscheide zwischen dem Erzherzogthum Oester¬ reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer Zeit -- heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig -- diese Bahn, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände empor windet, zum ersten Male befahren hat: der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viaducte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos schei¬ nender Tunnels hinein braus'te, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, welche uns stets überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬ der gefahrlos zwischen lachenden Triften forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halb geschlossenen Augen hinüber geträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung
Eine der merkwürdigſten Eiſenbahnbauten iſt der Schienen¬ weg über den Semmering, einen Theil der noriſchen Alpen, welcher die Grenzſcheide zwiſchen dem Erzherzogthum Oeſter¬ reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer Zeit — heutzutage iſt der Eindruck nicht mehr ſo gewaltig — dieſe Bahn, die ſich längs gähnender Abgründe und ſchroffer Felswände empor windet, zum erſten Male befahren hat: der wird, wenn der Zug über ſchwindelerregende Viaducte donnerte oder plötzlich mit ſchrillem Pfeifen in die Nacht endlos ſchei¬ nender Tunnels hinein brauſ'te, jene mit erhabenem Grauen gemiſchte Bewunderung empfunden haben, welche uns ſtets überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns ſehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬ der gefahrlos zwiſchen lachenden Triften forteilte, dann wird er ſich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu ſein, das ſolche Wunderwerke hervorbringt, in ſeinen Sitz zurückgelehnt und ſich mit halb geſchloſſenen Augen hinüber geträumt haben in die Errungenſchaften der Zukunft, welche in der Eröffnung
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Eine der merkwürdigſten Eiſenbahnbauten iſt der Schienen¬
weg über den Semmering, einen Theil der noriſchen Alpen,
welcher die Grenzſcheide zwiſchen dem Erzherzogthum Oeſter¬
reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer
Zeit — heutzutage iſt der Eindruck nicht mehr ſo gewaltig —
dieſe Bahn, die ſich längs gähnender Abgründe und ſchroffer
Felswände empor windet, zum erſten Male befahren hat: der
wird, wenn der Zug über ſchwindelerregende Viaducte donnerte
oder plötzlich mit ſchrillem Pfeifen in die Nacht endlos ſchei¬
nender Tunnels hinein brauſ'te, jene mit erhabenem Grauen
gemiſchte Bewunderung empfunden haben, welche uns ſtets
überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich
gehalten, verwirklicht vor uns ſehen. Und wenn dann die
gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬
der gefahrlos zwiſchen lachenden Triften forteilte, dann wird
er ſich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu ſein, das
ſolche Wunderwerke hervorbringt, in ſeinen Sitz zurückgelehnt
und ſich mit halb geſchloſſenen Augen hinüber geträumt haben
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. [127]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/143>, abgerufen am 24.11.2024.
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