Vorgermanische und Germanische Bauart. 1100 bis 1450.
In der herrschenden Bauart des zwölften Jahrhunderts hatten wir nur etwa die Kuppeln über der Durchkreuzung der Schiffe aus byzantinischen Vorbildern ableiten können, darin keinen ausreichenden Grund gefunden, die neu aufge- kommene Benennung, byzantinische Architectur, welche falschen Deutungen unterliegt, anzuerkennen. Treffender und minder bedenklich ist ohne Zweifel der früher übliche Name, vorgo- thische Bauart, insofern er nämlich das Wesen derselben, wel- ches in der Tendenz besteht, aus der um wenig später die so- genannte gothische Architectur ganz ausgebildet hervorgegan- gen ist, ganz richtig bezeichnet. Nach dem oben gemachten Vorschlage, die in der ganzen Christenheit vom Jahr 1200 bis gegen 1500 herrschende Bauart, welche man bisher die gothische genannt, die germanische zu nennen, möchte jene vor- angehende daher dem entsprechend am schicklichsten als die vorgermanische bezeichnet werden können.
Ihren mittelbaren Ursprung aus der alten christlich-rö- mischen Bauschule haben beide Style nie so ganz verläugnet. Der erste bewahrt noch gar manches römische Gesims und Kapitäl, beide aber bleiben im Hauptentwurfe den Basiliken, Rotunden und regelmäßigen Polygonformen der antiken Bau- kunst getreu. Dir allmählige Umgestaltung ergab sich aus climatischen Forderungen, oder aus veränderten Lebensgewohn- heiten. Gewiß war der offene hölzerne Dachstuhl der alten Basiliken, mit welchem man auch im Norden sich lange be-
Vorgermaniſche und Germaniſche Bauart. 1100 bis 1450.
In der herrſchenden Bauart des zwoͤlften Jahrhunderts hatten wir nur etwa die Kuppeln uͤber der Durchkreuzung der Schiffe aus byzantiniſchen Vorbildern ableiten koͤnnen, darin keinen ausreichenden Grund gefunden, die neu aufge- kommene Benennung, byzantiniſche Architectur, welche falſchen Deutungen unterliegt, anzuerkennen. Treffender und minder bedenklich iſt ohne Zweifel der fruͤher uͤbliche Name, vorgo- thiſche Bauart, inſofern er naͤmlich das Weſen derſelben, wel- ches in der Tendenz beſteht, aus der um wenig ſpaͤter die ſo- genannte gothiſche Architectur ganz ausgebildet hervorgegan- gen iſt, ganz richtig bezeichnet. Nach dem oben gemachten Vorſchlage, die in der ganzen Chriſtenheit vom Jahr 1200 bis gegen 1500 herrſchende Bauart, welche man bisher die gothiſche genannt, die germaniſche zu nennen, moͤchte jene vor- angehende daher dem entſprechend am ſchicklichſten als die vorgermaniſche bezeichnet werden koͤnnen.
Ihren mittelbaren Urſprung aus der alten chriſtlich-roͤ- miſchen Bauſchule haben beide Style nie ſo ganz verlaͤugnet. Der erſte bewahrt noch gar manches roͤmiſche Geſims und Kapitaͤl, beide aber bleiben im Hauptentwurfe den Baſiliken, Rotunden und regelmaͤßigen Polygonformen der antiken Bau- kunſt getreu. Dir allmaͤhlige Umgeſtaltung ergab ſich aus climatiſchen Forderungen, oder aus veraͤnderten Lebensgewohn- heiten. Gewiß war der offene hoͤlzerne Dachſtuhl der alten Baſiliken, mit welchem man auch im Norden ſich lange be-
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Vorgermaniſche und Germaniſche Bauart.
1100 bis 1450.
In der herrſchenden Bauart des zwoͤlften Jahrhunderts
hatten wir nur etwa die Kuppeln uͤber der Durchkreuzung
der Schiffe aus byzantiniſchen Vorbildern ableiten koͤnnen,
darin keinen ausreichenden Grund gefunden, die neu aufge-
kommene Benennung, byzantiniſche Architectur, welche falſchen
Deutungen unterliegt, anzuerkennen. Treffender und minder
bedenklich iſt ohne Zweifel der fruͤher uͤbliche Name, vorgo-
thiſche Bauart, inſofern er naͤmlich das Weſen derſelben, wel-
ches in der Tendenz beſteht, aus der um wenig ſpaͤter die ſo-
genannte gothiſche Architectur ganz ausgebildet hervorgegan-
gen iſt, ganz richtig bezeichnet. Nach dem oben gemachten
Vorſchlage, die in der ganzen Chriſtenheit vom Jahr 1200
bis gegen 1500 herrſchende Bauart, welche man bisher die
gothiſche genannt, die germaniſche zu nennen, moͤchte jene vor-
angehende daher dem entſprechend am ſchicklichſten als die
vorgermaniſche bezeichnet werden koͤnnen.
Ihren mittelbaren Urſprung aus der alten chriſtlich-roͤ-
miſchen Bauſchule haben beide Style nie ſo ganz verlaͤugnet.
Der erſte bewahrt noch gar manches roͤmiſche Geſims und
Kapitaͤl, beide aber bleiben im Hauptentwurfe den Baſiliken,
Rotunden und regelmaͤßigen Polygonformen der antiken Bau-
kunſt getreu. Dir allmaͤhlige Umgeſtaltung ergab ſich aus
climatiſchen Forderungen, oder aus veraͤnderten Lebensgewohn-
heiten. Gewiß war der offene hoͤlzerne Dachſtuhl der alten
Baſiliken, mit welchem man auch im Norden ſich lange be-
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/243>, abgerufen am 01.03.2025.
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