große Zeichner waren, so wurden sie hingegen in der Zeich- nung in dem Maaße lässiger und willkührlicher, als ihr Ge- schmack mehr und mehr zum Malerischen sich hinüberlenkte. In den nachfolgenden Schulen, in welchen das Malerische durchaus vorwaltet, ward aber, wie es bekannt ist, die Zeich- nung ganz schrankenlos, wie, in umgekehrter Richtung, das akademische Studium im verflossenen Jahrhunderte den ma- lerischen Geschmack bey vielen Künstlern bis auf die Wurzel ausgerottet hat. Uebrigens bin ich bereit, den anatomischen Forschungen des Michelangelo auf Raphaels Zeichnung den entschiedensten Einfluß einzuräumen. Denn unstreitig erwarb Raphael, der aus den Schulen von Perugia und Fuligno nur eben deren conventionnelle Zeichnungsart und die Gabe glücklicher Beobachtung und Nachbildung des Lebens nach Florenz brachte, erst an diesem Orte die anatomischen Kennt- nisse, welche von 1505 auf 1508 ihn schon in den Stand setzten, ganze Gemälde aus dem Geiste zu vollenden. Denn unstreitig erwarb er diese Kenntnisse, angeregt durch den Car- ton von Pisa und andere Jugendwerke des Michelangelo, aus deren Nachwirkung in eben jenen frey aus dem Geiste hin- geworfenen älteren Gemälden Raphaels gewisse, seinem eig- nen Wesen fremde, Vibrationen der Gestalt allein zu erklären sind. Nicht weniger bereit bin ich, dem Mengs und Ande- ren einzuräumen, daß Raphael zu Rom, vielleicht schon in Florenz, mit Lust und Begeisterung antike Bildwerke sich an- gesehn, nutzbare Winke darin aufgefunden, Einzelnes daraus mit dem Stifte, der Feder, der Kohle sich angemerkt habe; dieses letzte jedoch mit der Einschränkung, daß für jene me- chanisch emsige Nachbildung, welche in späteren Zeiten als fördersam angesehn, daher in den meisten Kunstschulen einge-
große Zeichner waren, ſo wurden ſie hingegen in der Zeich- nung in dem Maaße laͤſſiger und willkuͤhrlicher, als ihr Ge- ſchmack mehr und mehr zum Maleriſchen ſich hinuͤberlenkte. In den nachfolgenden Schulen, in welchen das Maleriſche durchaus vorwaltet, ward aber, wie es bekannt iſt, die Zeich- nung ganz ſchrankenlos, wie, in umgekehrter Richtung, das akademiſche Studium im verfloſſenen Jahrhunderte den ma- leriſchen Geſchmack bey vielen Kuͤnſtlern bis auf die Wurzel ausgerottet hat. Uebrigens bin ich bereit, den anatomiſchen Forſchungen des Michelangelo auf Raphaels Zeichnung den entſchiedenſten Einfluß einzuraͤumen. Denn unſtreitig erwarb Raphael, der aus den Schulen von Perugia und Fuligno nur eben deren conventionnelle Zeichnungsart und die Gabe gluͤcklicher Beobachtung und Nachbildung des Lebens nach Florenz brachte, erſt an dieſem Orte die anatomiſchen Kennt- niſſe, welche von 1505 auf 1508 ihn ſchon in den Stand ſetzten, ganze Gemaͤlde aus dem Geiſte zu vollenden. Denn unſtreitig erwarb er dieſe Kenntniſſe, angeregt durch den Car- ton von Piſa und andere Jugendwerke des Michelangelo, aus deren Nachwirkung in eben jenen frey aus dem Geiſte hin- geworfenen aͤlteren Gemaͤlden Raphaels gewiſſe, ſeinem eig- nen Weſen fremde, Vibrationen der Geſtalt allein zu erklaͤren ſind. Nicht weniger bereit bin ich, dem Mengs und Ande- ren einzuraͤumen, daß Raphael zu Rom, vielleicht ſchon in Florenz, mit Luſt und Begeiſterung antike Bildwerke ſich an- geſehn, nutzbare Winke darin aufgefunden, Einzelnes daraus mit dem Stifte, der Feder, der Kohle ſich angemerkt habe; dieſes letzte jedoch mit der Einſchraͤnkung, daß fuͤr jene me- chaniſch emſige Nachbildung, welche in ſpaͤteren Zeiten als foͤrderſam angeſehn, daher in den meiſten Kunſtſchulen einge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0108"n="86"/>
große Zeichner waren, ſo wurden ſie hingegen in der Zeich-<lb/>
nung in dem Maaße laͤſſiger und willkuͤhrlicher, als ihr Ge-<lb/>ſchmack mehr und mehr zum Maleriſchen ſich hinuͤberlenkte.<lb/>
In den nachfolgenden Schulen, in welchen das Maleriſche<lb/>
durchaus vorwaltet, ward aber, wie es bekannt iſt, die Zeich-<lb/>
nung ganz ſchrankenlos, wie, in umgekehrter Richtung, das<lb/>
akademiſche Studium im verfloſſenen Jahrhunderte den ma-<lb/>
leriſchen Geſchmack bey vielen Kuͤnſtlern bis auf die Wurzel<lb/>
ausgerottet hat. Uebrigens bin ich bereit, den anatomiſchen<lb/>
Forſchungen des <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118582143">Michelangelo</persName> auf <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphaels</persName> Zeichnung den<lb/>
entſchiedenſten Einfluß einzuraͤumen. Denn unſtreitig erwarb<lb/><persNameref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName>, der aus den Schulen von <placeName>Perugia</placeName> und <placeName>Fuligno</placeName><lb/>
nur eben deren conventionnelle Zeichnungsart und die Gabe<lb/>
gluͤcklicher Beobachtung und Nachbildung des Lebens nach<lb/><placeName>Florenz</placeName> brachte, erſt an dieſem Orte die anatomiſchen Kennt-<lb/>
niſſe, welche von 1505 auf 1508 ihn ſchon in den Stand<lb/>ſetzten, ganze Gemaͤlde aus dem Geiſte zu vollenden. Denn<lb/>
unſtreitig erwarb er dieſe Kenntniſſe, angeregt durch den Car-<lb/>
ton von <placeName>Piſa</placeName> und andere Jugendwerke des <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118582143">Michelangelo</persName>, aus<lb/>
deren Nachwirkung in eben jenen frey aus dem Geiſte hin-<lb/>
geworfenen aͤlteren Gemaͤlden <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphaels</persName> gewiſſe, ſeinem eig-<lb/>
nen Weſen fremde, Vibrationen der Geſtalt allein zu erklaͤren<lb/>ſind. Nicht weniger bereit bin ich, dem <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118783270">Mengs</persName> und Ande-<lb/>
ren einzuraͤumen, daß <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName> zu <placeName>Rom</placeName>, vielleicht ſchon in<lb/><placeName>Florenz</placeName>, mit Luſt und Begeiſterung antike Bildwerke ſich an-<lb/>
geſehn, nutzbare Winke darin aufgefunden, Einzelnes daraus<lb/>
mit dem Stifte, der Feder, der Kohle ſich angemerkt habe;<lb/>
dieſes letzte jedoch mit der Einſchraͤnkung, daß fuͤr jene me-<lb/>
chaniſch emſige Nachbildung, welche in ſpaͤteren Zeiten als<lb/>
foͤrderſam angeſehn, daher in den meiſten Kunſtſchulen einge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[86/0108]
große Zeichner waren, ſo wurden ſie hingegen in der Zeich-
nung in dem Maaße laͤſſiger und willkuͤhrlicher, als ihr Ge-
ſchmack mehr und mehr zum Maleriſchen ſich hinuͤberlenkte.
In den nachfolgenden Schulen, in welchen das Maleriſche
durchaus vorwaltet, ward aber, wie es bekannt iſt, die Zeich-
nung ganz ſchrankenlos, wie, in umgekehrter Richtung, das
akademiſche Studium im verfloſſenen Jahrhunderte den ma-
leriſchen Geſchmack bey vielen Kuͤnſtlern bis auf die Wurzel
ausgerottet hat. Uebrigens bin ich bereit, den anatomiſchen
Forſchungen des Michelangelo auf Raphaels Zeichnung den
entſchiedenſten Einfluß einzuraͤumen. Denn unſtreitig erwarb
Raphael, der aus den Schulen von Perugia und Fuligno
nur eben deren conventionnelle Zeichnungsart und die Gabe
gluͤcklicher Beobachtung und Nachbildung des Lebens nach
Florenz brachte, erſt an dieſem Orte die anatomiſchen Kennt-
niſſe, welche von 1505 auf 1508 ihn ſchon in den Stand
ſetzten, ganze Gemaͤlde aus dem Geiſte zu vollenden. Denn
unſtreitig erwarb er dieſe Kenntniſſe, angeregt durch den Car-
ton von Piſa und andere Jugendwerke des Michelangelo, aus
deren Nachwirkung in eben jenen frey aus dem Geiſte hin-
geworfenen aͤlteren Gemaͤlden Raphaels gewiſſe, ſeinem eig-
nen Weſen fremde, Vibrationen der Geſtalt allein zu erklaͤren
ſind. Nicht weniger bereit bin ich, dem Mengs und Ande-
ren einzuraͤumen, daß Raphael zu Rom, vielleicht ſchon in
Florenz, mit Luſt und Begeiſterung antike Bildwerke ſich an-
geſehn, nutzbare Winke darin aufgefunden, Einzelnes daraus
mit dem Stifte, der Feder, der Kohle ſich angemerkt habe;
dieſes letzte jedoch mit der Einſchraͤnkung, daß fuͤr jene me-
chaniſch emſige Nachbildung, welche in ſpaͤteren Zeiten als
foͤrderſam angeſehn, daher in den meiſten Kunſtſchulen einge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/108>, abgerufen am 07.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.