Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

und beten einige mit großem Eifer, während ein anderer, der
vor den Pabst geführt wird, so viel Schüchternheit zeigt, als
sich immer unter gleichen Umständen voraussetzen läßt. In
der gegenüberstehenden Darstellung des Sacramentes der Ehe
ist die Abwechselung bewundernswerth, welche der Künstler
den Gebehrden und Mienen der anwesenden Frauen zu verlei-
hen gewußt. Wenn diese Malereyen von Giotto sind, wie
ich nicht bezweifle, weil sie alle Eigenthümlichkeiten darlegen,
welche ich oben bezeichnet habe; so gereichen sie ihm aller-
dings zur Ehre und erklären, worin eigentlich die Natürlich-
keit bestand, welche die Zeitgenossen in seinen Darstellungen
bewunderten. In so alter Zeit kam weder die illusorische,
noch selbst die physiognomische Naturähnlichkeit in Frage; es
konnte dazumal nur in der Bewegung und Gebehrde, in den
gegenseitigen Beziehungen der Gestalten, Naturähnlichkeit be-
gehrt und erreicht werden. Dieser Vorzug zeigt sich denn
allerdings sowohl in diesen, als in einigen anderen Male-
reyen, welche Giotto in der Kirche des heiligen Franz zu Asisi
ausgeführt hat.

Ghiberti sagt, offenbar bloß aus der Erinnerung, "daß
Giotto bey den Minoriten zu Asisi fast die ganze Unterkirche
ausgemalt habe." *) Vasari beschränkte diese Angabe, welche
offenbar nicht haltbar war, auf das Kreuzgewölbe über dem
Grabe des Heiligen, worin ich ihm, nach schon angegebenen
Gründen, beystimme. Hingegen fand er in der Oberkirche,
deren Hauptschiff fast ganz von einer Hand ausgemalt wor-
den, ein offenes Feld für Vermuthungen, da der Meister, der

*) Cod. cit. -- Dipinse nella chiesa d'Asciesi nell' ordine
de' frati Minori quasi tutta la parte di sotto
. --
II. 5

und beten einige mit großem Eifer, waͤhrend ein anderer, der
vor den Pabſt gefuͤhrt wird, ſo viel Schuͤchternheit zeigt, als
ſich immer unter gleichen Umſtaͤnden vorausſetzen laͤßt. In
der gegenuͤberſtehenden Darſtellung des Sacramentes der Ehe
iſt die Abwechſelung bewundernswerth, welche der Kuͤnſtler
den Gebehrden und Mienen der anweſenden Frauen zu verlei-
hen gewußt. Wenn dieſe Malereyen von Giotto ſind, wie
ich nicht bezweifle, weil ſie alle Eigenthuͤmlichkeiten darlegen,
welche ich oben bezeichnet habe; ſo gereichen ſie ihm aller-
dings zur Ehre und erklaͤren, worin eigentlich die Natuͤrlich-
keit beſtand, welche die Zeitgenoſſen in ſeinen Darſtellungen
bewunderten. In ſo alter Zeit kam weder die illuſoriſche,
noch ſelbſt die phyſiognomiſche Naturaͤhnlichkeit in Frage; es
konnte dazumal nur in der Bewegung und Gebehrde, in den
gegenſeitigen Beziehungen der Geſtalten, Naturaͤhnlichkeit be-
gehrt und erreicht werden. Dieſer Vorzug zeigt ſich denn
allerdings ſowohl in dieſen, als in einigen anderen Male-
reyen, welche Giotto in der Kirche des heiligen Franz zu Aſiſi
ausgefuͤhrt hat.

Ghiberti ſagt, offenbar bloß aus der Erinnerung, „daß
Giotto bey den Minoriten zu Aſiſi faſt die ganze Unterkirche
ausgemalt habe.“ *) Vaſari beſchraͤnkte dieſe Angabe, welche
offenbar nicht haltbar war, auf das Kreuzgewoͤlbe uͤber dem
Grabe des Heiligen, worin ich ihm, nach ſchon angegebenen
Gruͤnden, beyſtimme. Hingegen fand er in der Oberkirche,
deren Hauptſchiff faſt ganz von einer Hand ausgemalt wor-
den, ein offenes Feld fuͤr Vermuthungen, da der Meiſter, der

*) Cod. cit. — Dipinse nella chiesa d’Asciesi nell’ ordine
de’ frati Minori quasi tutta la parte di sotto
. —
II. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0083" n="65"/>
und beten einige mit großem Eifer, wa&#x0364;hrend ein anderer, der<lb/>
vor den Pab&#x017F;t gefu&#x0364;hrt wird, &#x017F;o viel Schu&#x0364;chternheit zeigt, als<lb/>
&#x017F;ich immer unter gleichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden voraus&#x017F;etzen la&#x0364;ßt. In<lb/>
der gegenu&#x0364;ber&#x017F;tehenden Dar&#x017F;tellung des Sacramentes der Ehe<lb/>
i&#x017F;t die Abwech&#x017F;elung bewundernswerth, welche der Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
den Gebehrden und Mienen der anwe&#x017F;enden Frauen zu verlei-<lb/>
hen gewußt. Wenn die&#x017F;e Malereyen von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539477">Giotto</persName> &#x017F;ind, wie<lb/>
ich nicht bezweifle, weil &#x017F;ie alle Eigenthu&#x0364;mlichkeiten darlegen,<lb/>
welche ich oben bezeichnet habe; &#x017F;o gereichen &#x017F;ie ihm aller-<lb/>
dings zur Ehre und erkla&#x0364;ren, worin eigentlich die Natu&#x0364;rlich-<lb/>
keit be&#x017F;tand, welche die Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en in &#x017F;einen Dar&#x017F;tellungen<lb/>
bewunderten. In &#x017F;o alter Zeit kam weder die illu&#x017F;ori&#x017F;che,<lb/>
noch &#x017F;elb&#x017F;t die phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Natura&#x0364;hnlichkeit in Frage; es<lb/>
konnte dazumal nur in der Bewegung und Gebehrde, in den<lb/>
gegen&#x017F;eitigen Beziehungen der Ge&#x017F;talten, Natura&#x0364;hnlichkeit be-<lb/>
gehrt und erreicht werden. Die&#x017F;er Vorzug zeigt &#x017F;ich denn<lb/>
allerdings &#x017F;owohl in die&#x017F;en, als in einigen anderen Male-<lb/>
reyen, welche <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539477">Giotto</persName> in der Kirche des heiligen Franz zu <placeName>A&#x017F;i&#x017F;i</placeName><lb/>
ausgefu&#x0364;hrt hat.</p><lb/>
          <p><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539086">Ghiberti</persName> &#x017F;agt, offenbar bloß aus der Erinnerung, &#x201E;daß<lb/><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539477">Giotto</persName> bey den Minoriten zu <placeName>A&#x017F;i&#x017F;i</placeName> fa&#x017F;t die ganze Unterkirche<lb/>
ausgemalt habe.&#x201C; <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Cod. cit. &#x2014; Dipinse nella chiesa d&#x2019;Asciesi nell&#x2019; ordine<lb/>
de&#x2019; frati Minori <hi rendition="#g">quasi tutta la parte di sotto</hi></hi>. &#x2014;</note> <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118626213">Va&#x017F;ari</persName> be&#x017F;chra&#x0364;nkte die&#x017F;e Angabe, welche<lb/>
offenbar nicht haltbar war, auf das Kreuzgewo&#x0364;lbe u&#x0364;ber dem<lb/>
Grabe des Heiligen, worin ich ihm, nach &#x017F;chon angegebenen<lb/>
Gru&#x0364;nden, bey&#x017F;timme. Hingegen fand er in der Oberkirche,<lb/>
deren Haupt&#x017F;chiff fa&#x017F;t ganz von einer Hand ausgemalt wor-<lb/>
den, ein offenes Feld fu&#x0364;r Vermuthungen, da der Mei&#x017F;ter, der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II.</hi> 5</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0083] und beten einige mit großem Eifer, waͤhrend ein anderer, der vor den Pabſt gefuͤhrt wird, ſo viel Schuͤchternheit zeigt, als ſich immer unter gleichen Umſtaͤnden vorausſetzen laͤßt. In der gegenuͤberſtehenden Darſtellung des Sacramentes der Ehe iſt die Abwechſelung bewundernswerth, welche der Kuͤnſtler den Gebehrden und Mienen der anweſenden Frauen zu verlei- hen gewußt. Wenn dieſe Malereyen von Giotto ſind, wie ich nicht bezweifle, weil ſie alle Eigenthuͤmlichkeiten darlegen, welche ich oben bezeichnet habe; ſo gereichen ſie ihm aller- dings zur Ehre und erklaͤren, worin eigentlich die Natuͤrlich- keit beſtand, welche die Zeitgenoſſen in ſeinen Darſtellungen bewunderten. In ſo alter Zeit kam weder die illuſoriſche, noch ſelbſt die phyſiognomiſche Naturaͤhnlichkeit in Frage; es konnte dazumal nur in der Bewegung und Gebehrde, in den gegenſeitigen Beziehungen der Geſtalten, Naturaͤhnlichkeit be- gehrt und erreicht werden. Dieſer Vorzug zeigt ſich denn allerdings ſowohl in dieſen, als in einigen anderen Male- reyen, welche Giotto in der Kirche des heiligen Franz zu Aſiſi ausgefuͤhrt hat. Ghiberti ſagt, offenbar bloß aus der Erinnerung, „daß Giotto bey den Minoriten zu Aſiſi faſt die ganze Unterkirche ausgemalt habe.“ *) Vaſari beſchraͤnkte dieſe Angabe, welche offenbar nicht haltbar war, auf das Kreuzgewoͤlbe uͤber dem Grabe des Heiligen, worin ich ihm, nach ſchon angegebenen Gruͤnden, beyſtimme. Hingegen fand er in der Oberkirche, deren Hauptſchiff faſt ganz von einer Hand ausgemalt wor- den, ein offenes Feld fuͤr Vermuthungen, da der Meiſter, der *) Cod. cit. — Dipinse nella chiesa d’Asciesi nell’ ordine de’ frati Minori quasi tutta la parte di sotto. — II. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/83
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/83>, abgerufen am 24.11.2024.