Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

Doch auch dem bloßen Gedanken nach, dürften wir Solchen,
welche in derselben Form (von denen rede ich, welche unter
idealen Formen nicht bloß Darstellungen eines Geistigen, son-
dern eine eigene Art reeller Formen verstehen) *) eine gedop-
pelte Beschaffenheit, die natürliche und die künstliche, vereini-
gen wollen, die Frage vorlegen: wo sie denn in den Natur-
formen die Grenze der Gesetzmäßigkeit ziehen wollen, da es
doch am Tage liegt, daß die kleinste Fiber, sogar das schein-
bar Zufällige selbst, eben sowohl allgemeinen Naturgesetzen
unterliegt, als das Knochengebäude und Muskelsystem, welche
sie hier vielleicht allein im Sinne haben! -- Sollten diese
Kunstgelehrten wirklich überzeugt seyn, daß Darstellungen des
überschwenglich Großen und Herrlichen, welche sie voraussetz-
lich im Sinne haben, durch ein solches Räthsel der Trennung
des organisch Vereinten, der Vereinigung des Entgegengesetzten
deutlicher erklärt werde, als, indem den Naturformen in ihrer
Gesammtheit die Kraft zugestanden wird, mit vielem Anderen

sogenannter leerer Idealbildungen durch individuelle Züge)
hätten sich, nach der Ansicht der ang. Schriftst., die Künstler be-
stimmter und ausgezeichneter Schulen der Natur genähert? Nicht
das Bedürfniß, darstellende Formen sich anzueignen, nicht Hin-
gebung in die begeisternden Anregungen der Natur, nur das Be-
streben etwas Sinnestäuschung und unterhaltende Mannichfaltigkeit
der Erscheinung hervorzubringen, hätte die griechischen und spätere
Künstler veranlaßt, sich der Natur, umsichtig und mißtrauisch,
anzunähern? --
*) Böttiger a. a. O. S. 353. (Von der älteren griech. Ma-
lerey) -- "So wurde, wo das Ideal noch nicht erreicht
werden konnte
, wenigstens das Geistige und Heilige der Kunst
schon gehandhabt." Also unterscheidet dieser Gelehrte in Bezug
auf die Kunst Ideales und Geistiges.

Doch auch dem bloßen Gedanken nach, duͤrften wir Solchen,
welche in derſelben Form (von denen rede ich, welche unter
idealen Formen nicht bloß Darſtellungen eines Geiſtigen, ſon-
dern eine eigene Art reeller Formen verſtehen) *) eine gedop-
pelte Beſchaffenheit, die natuͤrliche und die kuͤnſtliche, vereini-
gen wollen, die Frage vorlegen: wo ſie denn in den Natur-
formen die Grenze der Geſetzmaͤßigkeit ziehen wollen, da es
doch am Tage liegt, daß die kleinſte Fiber, ſogar das ſchein-
bar Zufaͤllige ſelbſt, eben ſowohl allgemeinen Naturgeſetzen
unterliegt, als das Knochengebaͤude und Muskelſyſtem, welche
ſie hier vielleicht allein im Sinne haben! — Sollten dieſe
Kunſtgelehrten wirklich uͤberzeugt ſeyn, daß Darſtellungen des
uͤberſchwenglich Großen und Herrlichen, welche ſie vorausſetz-
lich im Sinne haben, durch ein ſolches Raͤthſel der Trennung
des organiſch Vereinten, der Vereinigung des Entgegengeſetzten
deutlicher erklaͤrt werde, als, indem den Naturformen in ihrer
Geſammtheit die Kraft zugeſtanden wird, mit vielem Anderen

ſogenannter leerer Idealbildungen durch individuelle Zuͤge)
haͤtten ſich, nach der Anſicht der ang. Schriftſt., die Kuͤnſtler be-
ſtimmter und ausgezeichneter Schulen der Natur genaͤhert? Nicht
das Beduͤrfniß, darſtellende Formen ſich anzueignen, nicht Hin-
gebung in die begeiſternden Anregungen der Natur, nur das Be-
ſtreben etwas Sinnestaͤuſchung und unterhaltende Mannichfaltigkeit
der Erſcheinung hervorzubringen, haͤtte die griechiſchen und ſpaͤtere
Kuͤnſtler veranlaßt, ſich der Natur, umſichtig und mißtrauiſch,
anzunaͤhern? —
*) Boͤttiger a. a. O. S. 353. (Von der aͤlteren griech. Ma-
lerey) — „So wurde, wo das Ideal noch nicht erreicht
werden konnte
, wenigſtens das Geiſtige und Heilige der Kunſt
ſchon gehandhabt.“ Alſo unterſcheidet dieſer Gelehrte in Bezug
auf die Kunſt Ideales und Geiſtiges.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0092" n="74"/>
          <p>Doch auch dem bloßen Gedanken nach, du&#x0364;rften wir Solchen,<lb/>
welche in der&#x017F;elben Form (von denen rede ich, welche unter<lb/>
idealen Formen nicht bloß Dar&#x017F;tellungen eines Gei&#x017F;tigen, &#x017F;on-<lb/>
dern eine eigene Art reeller Formen ver&#x017F;tehen) <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118824775">Bo&#x0364;ttiger</persName></hi> a. a. O. S. 353. (Von der a&#x0364;lteren griech. Ma-<lb/>
lerey) &#x2014; &#x201E;So wurde, <hi rendition="#g">wo das Ideal noch nicht erreicht<lb/>
werden konnte</hi>, wenig&#x017F;tens das Gei&#x017F;tige und Heilige der Kun&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chon gehandhabt.&#x201C; Al&#x017F;o unter&#x017F;cheidet die&#x017F;er Gelehrte in Bezug<lb/>
auf die Kun&#x017F;t Ideales und Gei&#x017F;tiges.</note> eine gedop-<lb/>
pelte Be&#x017F;chaffenheit, die natu&#x0364;rliche und die ku&#x0364;n&#x017F;tliche, vereini-<lb/>
gen wollen, die Frage vorlegen: wo &#x017F;ie denn in den Natur-<lb/>
formen die Grenze der Ge&#x017F;etzma&#x0364;ßigkeit ziehen wollen, da es<lb/>
doch am Tage liegt, daß die klein&#x017F;te Fiber, &#x017F;ogar das &#x017F;chein-<lb/>
bar Zufa&#x0364;llige &#x017F;elb&#x017F;t, eben &#x017F;owohl allgemeinen Naturge&#x017F;etzen<lb/>
unterliegt, als das Knochengeba&#x0364;ude und Muskel&#x017F;y&#x017F;tem, welche<lb/>
&#x017F;ie hier vielleicht allein im Sinne haben! &#x2014; Sollten die&#x017F;e<lb/>
Kun&#x017F;tgelehrten wirklich u&#x0364;berzeugt &#x017F;eyn, daß Dar&#x017F;tellungen des<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;chwenglich Großen und Herrlichen, welche &#x017F;ie voraus&#x017F;etz-<lb/>
lich im Sinne haben, durch ein &#x017F;olches Ra&#x0364;th&#x017F;el der Trennung<lb/>
des organi&#x017F;ch Vereinten, der Vereinigung des Entgegenge&#x017F;etzten<lb/>
deutlicher erkla&#x0364;rt werde, als, indem den Naturformen in ihrer<lb/>
Ge&#x017F;ammtheit die Kraft zuge&#x017F;tanden wird, mit vielem Anderen<lb/><note xml:id="fn9b" prev="#fn9a" place="foot" n="*)">&#x017F;ogenannter <hi rendition="#g">leerer Idealbildungen</hi> durch individuelle Zu&#x0364;ge)<lb/>
ha&#x0364;tten &#x017F;ich, nach der An&#x017F;icht der ang. Schrift&#x017F;t., die Ku&#x0364;n&#x017F;tler be-<lb/>
&#x017F;timmter und ausgezeichneter Schulen der Natur gena&#x0364;hert? Nicht<lb/>
das Bedu&#x0364;rfniß, dar&#x017F;tellende Formen &#x017F;ich anzueignen, nicht Hin-<lb/>
gebung in die begei&#x017F;ternden Anregungen der Natur, nur das Be-<lb/>
&#x017F;treben etwas Sinnesta&#x0364;u&#x017F;chung und unterhaltende Mannichfaltigkeit<lb/>
der Er&#x017F;cheinung hervorzubringen, ha&#x0364;tte die griechi&#x017F;chen und &#x017F;pa&#x0364;tere<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler veranlaßt, &#x017F;ich der Natur, um&#x017F;ichtig und mißtraui&#x017F;ch,<lb/>
anzuna&#x0364;hern? &#x2014;</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0092] Doch auch dem bloßen Gedanken nach, duͤrften wir Solchen, welche in derſelben Form (von denen rede ich, welche unter idealen Formen nicht bloß Darſtellungen eines Geiſtigen, ſon- dern eine eigene Art reeller Formen verſtehen) *) eine gedop- pelte Beſchaffenheit, die natuͤrliche und die kuͤnſtliche, vereini- gen wollen, die Frage vorlegen: wo ſie denn in den Natur- formen die Grenze der Geſetzmaͤßigkeit ziehen wollen, da es doch am Tage liegt, daß die kleinſte Fiber, ſogar das ſchein- bar Zufaͤllige ſelbſt, eben ſowohl allgemeinen Naturgeſetzen unterliegt, als das Knochengebaͤude und Muskelſyſtem, welche ſie hier vielleicht allein im Sinne haben! — Sollten dieſe Kunſtgelehrten wirklich uͤberzeugt ſeyn, daß Darſtellungen des uͤberſchwenglich Großen und Herrlichen, welche ſie vorausſetz- lich im Sinne haben, durch ein ſolches Raͤthſel der Trennung des organiſch Vereinten, der Vereinigung des Entgegengeſetzten deutlicher erklaͤrt werde, als, indem den Naturformen in ihrer Geſammtheit die Kraft zugeſtanden wird, mit vielem Anderen *) *) Boͤttiger a. a. O. S. 353. (Von der aͤlteren griech. Ma- lerey) — „So wurde, wo das Ideal noch nicht erreicht werden konnte, wenigſtens das Geiſtige und Heilige der Kunſt ſchon gehandhabt.“ Alſo unterſcheidet dieſer Gelehrte in Bezug auf die Kunſt Ideales und Geiſtiges. *) ſogenannter leerer Idealbildungen durch individuelle Zuͤge) haͤtten ſich, nach der Anſicht der ang. Schriftſt., die Kuͤnſtler be- ſtimmter und ausgezeichneter Schulen der Natur genaͤhert? Nicht das Beduͤrfniß, darſtellende Formen ſich anzueignen, nicht Hin- gebung in die begeiſternden Anregungen der Natur, nur das Be- ſtreben etwas Sinnestaͤuſchung und unterhaltende Mannichfaltigkeit der Erſcheinung hervorzubringen, haͤtte die griechiſchen und ſpaͤtere Kuͤnſtler veranlaßt, ſich der Natur, umſichtig und mißtrauiſch, anzunaͤhern? —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/92
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/92>, abgerufen am 27.11.2024.