Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.Wir armen Schwestern, ach! die goldne Morgenstunde Kam selber ohn' ihr Gold, ohn' ihren Thau im Munde. Doch eine rief im Kreis: Still! junge Jahrespflanzen, Ihr kennt die Stunde nur, und nicht die Zeit im Ganzen. Ihr blüht am Boden hin, geweckt vom Frühlingshauch, Den Sommer durch zum Herbst; ich aber blüh' am Strauch. Jung wie ihr selbst, hab' ich vor euch des Strauchs Bejahrung Voraus, und so vernehmt die Stimme der Erfahrung: Weil heut, auf den ihr hofft, der Thau nicht eingetroffen, Deswegen grade dürft ihr nun auf Regen hoffen. Die Mutter, deren Brust ihr blühet eingesenkt, Die bald von unten euch und bald von oben tränkt; Sie weiß am besten wol, wodurch ihr Kind gedeiht, Doch das verschiedne gibt sie nicht zu gleicher Zeit. Wenn, eh zur Luft sie steigt, Erdfeuchtigkeit zur Erden Herabfällt, wird sie Thau, und kann nicht Wolke werden. Wenn höher steigt der Dunst, euch nicht als Thau erquickt, Dann wird für euch im Blau der Mantel grau gestrickt. Wir armen Schweſtern, ach! die goldne Morgenſtunde Kam ſelber ohn' ihr Gold, ohn' ihren Thau im Munde. Doch eine rief im Kreis: Still! junge Jahrespflanzen, Ihr kennt die Stunde nur, und nicht die Zeit im Ganzen. Ihr bluͤht am Boden hin, geweckt vom Fruͤhlingshauch, Den Sommer durch zum Herbſt; ich aber bluͤh' am Strauch. Jung wie ihr ſelbſt, hab' ich vor euch des Strauchs Bejahrung Voraus, und ſo vernehmt die Stimme der Erfahrung: Weil heut, auf den ihr hofft, der Thau nicht eingetroffen, Deswegen grade duͤrft ihr nun auf Regen hoffen. Die Mutter, deren Bruſt ihr bluͤhet eingeſenkt, Die bald von unten euch und bald von oben traͤnkt; Sie weiß am beſten wol, wodurch ihr Kind gedeiht, Doch das verſchiedne gibt ſie nicht zu gleicher Zeit. Wenn, eh zur Luft ſie ſteigt, Erdfeuchtigkeit zur Erden Herabfaͤllt, wird ſie Thau, und kann nicht Wolke werden. Wenn hoͤher ſteigt der Dunſt, euch nicht als Thau erquickt, Dann wird fuͤr euch im Blau der Mantel grau geſtrickt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0058" n="48"/> <lg n="6"> <l>Wir armen Schweſtern, ach! die goldne Morgenſtunde</l><lb/> <l>Kam ſelber ohn' ihr Gold, ohn' ihren Thau im Munde.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Doch eine rief im Kreis: Still! junge Jahrespflanzen,</l><lb/> <l>Ihr kennt die Stunde nur, und nicht die Zeit im Ganzen.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Ihr bluͤht am Boden hin, geweckt vom Fruͤhlingshauch,</l><lb/> <l>Den Sommer durch zum Herbſt; ich aber bluͤh' am Strauch.</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Jung wie ihr ſelbſt, hab' ich vor euch des Strauchs Bejahrung</l><lb/> <l>Voraus, und ſo vernehmt die Stimme der Erfahrung:</l> </lg><lb/> <lg n="10"> <l>Weil heut, auf den ihr hofft, der Thau nicht eingetroffen,</l><lb/> <l>Deswegen grade duͤrft ihr nun auf Regen hoffen.</l> </lg><lb/> <lg n="11"> <l>Die Mutter, deren Bruſt ihr bluͤhet eingeſenkt,</l><lb/> <l>Die bald von unten euch und bald von oben traͤnkt;</l> </lg><lb/> <lg n="12"> <l>Sie weiß am beſten wol, wodurch ihr Kind gedeiht,</l><lb/> <l>Doch das verſchiedne gibt ſie nicht zu gleicher Zeit.</l> </lg><lb/> <lg n="13"> <l>Wenn, eh zur Luft ſie ſteigt, Erdfeuchtigkeit zur Erden</l><lb/> <l>Herabfaͤllt, wird ſie Thau, und kann nicht Wolke werden.</l> </lg><lb/> <lg n="14"> <l>Wenn hoͤher ſteigt der Dunſt, euch nicht als Thau erquickt,</l><lb/> <l>Dann wird fuͤr euch im Blau der Mantel grau geſtrickt.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0058]
Wir armen Schweſtern, ach! die goldne Morgenſtunde
Kam ſelber ohn' ihr Gold, ohn' ihren Thau im Munde.
Doch eine rief im Kreis: Still! junge Jahrespflanzen,
Ihr kennt die Stunde nur, und nicht die Zeit im Ganzen.
Ihr bluͤht am Boden hin, geweckt vom Fruͤhlingshauch,
Den Sommer durch zum Herbſt; ich aber bluͤh' am Strauch.
Jung wie ihr ſelbſt, hab' ich vor euch des Strauchs Bejahrung
Voraus, und ſo vernehmt die Stimme der Erfahrung:
Weil heut, auf den ihr hofft, der Thau nicht eingetroffen,
Deswegen grade duͤrft ihr nun auf Regen hoffen.
Die Mutter, deren Bruſt ihr bluͤhet eingeſenkt,
Die bald von unten euch und bald von oben traͤnkt;
Sie weiß am beſten wol, wodurch ihr Kind gedeiht,
Doch das verſchiedne gibt ſie nicht zu gleicher Zeit.
Wenn, eh zur Luft ſie ſteigt, Erdfeuchtigkeit zur Erden
Herabfaͤllt, wird ſie Thau, und kann nicht Wolke werden.
Wenn hoͤher ſteigt der Dunſt, euch nicht als Thau erquickt,
Dann wird fuͤr euch im Blau der Mantel grau geſtrickt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |