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Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838.

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Bin ich herabgesandt? bin ich herabgebannt?
Hab' ich, und weiß nicht mehr, mich frei herabgewandt?
Herabgeflogen wol? villeicht herabgestiegen?
Herabgefallen gar? am besten wäre Fliegen.
Wenn ich herab einst flog, werd' ich hinauf einst fliegen;
Wenn ich herunter fiel, wie lange soll ich liegen?
Das, Seelchen, sag' ich dir: du bist gewis geflogen,
Wenn als ein Vogel nicht, doch wie ein Pfeil vom Bogen.
Vernimm den Ernst von mir: Zwei Schwingen dienten dir,
Die eine Langeweil, die andre Neubegier.
Langweile war es müd' im ew'gen Chor zu schweben,
Neugierde fühlte Lust was andres zu erleben.
So trugen sie dich her, zu büßen ihre Lust,
Und immer fühlst du noch die beiden an der Brust.
Ihr Nagen in der Brust fühlst du mit Unbehagen,
Und wünschest daß sie dich nur immer weiter tragen.
Ich rathe dir, wann du kommst einmal heim zu ruhn,
Die beiden Schwingen ganz und gar dann abzuthun.
Bin ich herabgeſandt? bin ich herabgebannt?
Hab' ich, und weiß nicht mehr, mich frei herabgewandt?
Herabgeflogen wol? villeicht herabgeſtiegen?
Herabgefallen gar? am beſten waͤre Fliegen.
Wenn ich herab einſt flog, werd' ich hinauf einſt fliegen;
Wenn ich herunter fiel, wie lange ſoll ich liegen?
Das, Seelchen, ſag' ich dir: du biſt gewis geflogen,
Wenn als ein Vogel nicht, doch wie ein Pfeil vom Bogen.
Vernimm den Ernſt von mir: Zwei Schwingen dienten dir,
Die eine Langeweil, die andre Neubegier.
Langweile war es muͤd' im ew'gen Chor zu ſchweben,
Neugierde fuͤhlte Luſt was andres zu erleben.
So trugen ſie dich her, zu buͤßen ihre Luſt,
Und immer fuͤhlſt du noch die beiden an der Bruſt.
Ihr Nagen in der Bruſt fuͤhlſt du mit Unbehagen,
Und wuͤnſcheſt daß ſie dich nur immer weiter tragen.
Ich rathe dir, wann du kommſt einmal heim zu ruhn,
Die beiden Schwingen ganz und gar dann abzuthun.
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[205/0215] Bin ich herabgeſandt? bin ich herabgebannt? Hab' ich, und weiß nicht mehr, mich frei herabgewandt? Herabgeflogen wol? villeicht herabgeſtiegen? Herabgefallen gar? am beſten waͤre Fliegen. Wenn ich herab einſt flog, werd' ich hinauf einſt fliegen; Wenn ich herunter fiel, wie lange ſoll ich liegen? Das, Seelchen, ſag' ich dir: du biſt gewis geflogen, Wenn als ein Vogel nicht, doch wie ein Pfeil vom Bogen. Vernimm den Ernſt von mir: Zwei Schwingen dienten dir, Die eine Langeweil, die andre Neubegier. Langweile war es muͤd' im ew'gen Chor zu ſchweben, Neugierde fuͤhlte Luſt was andres zu erleben. So trugen ſie dich her, zu buͤßen ihre Luſt, Und immer fuͤhlſt du noch die beiden an der Bruſt. Ihr Nagen in der Bruſt fuͤhlſt du mit Unbehagen, Und wuͤnſcheſt daß ſie dich nur immer weiter tragen. Ich rathe dir, wann du kommſt einmal heim zu ruhn, Die beiden Schwingen ganz und gar dann abzuthun.

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Zitationshilfe: Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 4. Leipzig, 1838, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane04_1838/215>, abgerufen am 24.11.2024.