Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite
107.
Die Sterne leuchten auch am Tag, nur siehst du's nicht,
Weil deine Augen ganz erfüllet Sonnenlicht.
Doch wird gesagt, daß man am hellesten Mittag
Aus tiefem Brunnengrund die Sterne sehen mag.
Wer so sich ganz vertieft, der hat sich ganz erhoben,
Ihm leuchtet höhres Licht als von der Sonne droben.
Auch sah ich selbst am Tag die Sterne treten vor,
Als durch Verfinsterung die Sonn' ihr Licht verlor.
Das ist ein plötzliches eingreifendes Geschick,
Das aufthut dem Gemüth ins Ewige den Blick.
Doch der gelinde Weg, wie man am schönsten sieht
Die Stern', ist Nachts wann sich zurück die Sonne zieht.
Sie trösten in der Nacht dein Auge, wenn es wacht,
Und wachen, wenn es schläft, bis neu die Sonne lacht.


Rückert, Lehrgedicht III. 5
107.
Die Sterne leuchten auch am Tag, nur ſiehſt du's nicht,
Weil deine Augen ganz erfuͤllet Sonnenlicht.
Doch wird geſagt, daß man am helleſten Mittag
Aus tiefem Brunnengrund die Sterne ſehen mag.
Wer ſo ſich ganz vertieft, der hat ſich ganz erhoben,
Ihm leuchtet hoͤhres Licht als von der Sonne droben.
Auch ſah ich ſelbſt am Tag die Sterne treten vor,
Als durch Verfinſterung die Sonn' ihr Licht verlor.
Das iſt ein ploͤtzliches eingreifendes Geſchick,
Das aufthut dem Gemuͤth ins Ewige den Blick.
Doch der gelinde Weg, wie man am ſchoͤnſten ſieht
Die Stern', iſt Nachts wann ſich zuruͤck die Sonne zieht.
Sie troͤſten in der Nacht dein Auge, wenn es wacht,
Und wachen, wenn es ſchlaͤft, bis neu die Sonne lacht.


Rückert, Lehrgedicht III. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0107" n="97"/>
        <div n="2">
          <head>107.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Die Sterne leuchten auch am Tag, nur &#x017F;ieh&#x017F;t du's nicht,</l><lb/>
              <l>Weil deine Augen ganz erfu&#x0364;llet Sonnenlicht.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Doch wird ge&#x017F;agt, daß man am helle&#x017F;ten Mittag</l><lb/>
              <l>Aus tiefem Brunnengrund die Sterne &#x017F;ehen mag.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Wer &#x017F;o &#x017F;ich ganz vertieft, der hat &#x017F;ich ganz erhoben,</l><lb/>
              <l>Ihm leuchtet ho&#x0364;hres Licht als von der Sonne droben.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Auch &#x017F;ah ich &#x017F;elb&#x017F;t am Tag die Sterne treten vor,</l><lb/>
              <l>Als durch Verfin&#x017F;terung die Sonn' ihr Licht verlor.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <l>Das i&#x017F;t ein plo&#x0364;tzliches eingreifendes Ge&#x017F;chick,</l><lb/>
              <l>Das aufthut dem Gemu&#x0364;th ins Ewige den Blick.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="6">
              <l>Doch der gelinde Weg, wie man am &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten &#x017F;ieht</l><lb/>
              <l>Die Stern', i&#x017F;t Nachts wann &#x017F;ich zuru&#x0364;ck die Sonne zieht.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="7">
              <l>Sie tro&#x0364;&#x017F;ten in der Nacht dein Auge, wenn es wacht,</l><lb/>
              <l>Und wachen, wenn es &#x017F;chla&#x0364;ft, bis neu die Sonne lacht.</l>
            </lg><lb/>
          </lg>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <fw place="bottom" type="sig">Rückert, Lehrgedicht III. 5</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0107] 107. Die Sterne leuchten auch am Tag, nur ſiehſt du's nicht, Weil deine Augen ganz erfuͤllet Sonnenlicht. Doch wird geſagt, daß man am helleſten Mittag Aus tiefem Brunnengrund die Sterne ſehen mag. Wer ſo ſich ganz vertieft, der hat ſich ganz erhoben, Ihm leuchtet hoͤhres Licht als von der Sonne droben. Auch ſah ich ſelbſt am Tag die Sterne treten vor, Als durch Verfinſterung die Sonn' ihr Licht verlor. Das iſt ein ploͤtzliches eingreifendes Geſchick, Das aufthut dem Gemuͤth ins Ewige den Blick. Doch der gelinde Weg, wie man am ſchoͤnſten ſieht Die Stern', iſt Nachts wann ſich zuruͤck die Sonne zieht. Sie troͤſten in der Nacht dein Auge, wenn es wacht, Und wachen, wenn es ſchlaͤft, bis neu die Sonne lacht. Rückert, Lehrgedicht III. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/107
Zitationshilfe: Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/107>, abgerufen am 22.12.2024.