Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 1. Leipzig, 1836."Wer weiß, ob mir der Herr den vollen Lohn wird geben? Zu meiner Sicherheit behalt' ich etwas eben. Hier am verborgnen Ort will ich ein Theil bewahren, Bis die Gesinnung dort des Herrn ich hab' erfahren." Der Körner einen Theil vergräbt er in der Grube, Und bringt den übrigen Ertrag dem Herrn der Hube. Der Herr ist mit der Frucht des Jahres wohl zufrieden, Und hat dem Knecht mehr als verdienten Lohn beschieden. Der Knecht hat kaum den Muth ins Antlitz ihm zu schaun Daß er zum guten Herrn nicht hatte mehr Vertraun. Er geht beschämt und will gleich das Vergrabne holen, Doch am verborgnen Ort hat es ein Dieb gestolen. Und ganz betroffen tritt er vor den Herren wieder; Der fragt: warum schlägst du vor mir die Augen nieder? Er spricht: Wie dürft' ich je zu dir sie mehr erheben? Du hast mir über den verdienten Lohn gegeben. Ich aber habe mir mein Theil vorweg genommen; Nun ich es bringen wollt', ist es abhanden kommen. „Wer weiß, ob mir der Herr den vollen Lohn wird geben? Zu meiner Sicherheit behalt' ich etwas eben. Hier am verborgnen Ort will ich ein Theil bewahren, Bis die Geſinnung dort des Herrn ich hab' erfahren.“ Der Koͤrner einen Theil vergraͤbt er in der Grube, Und bringt den uͤbrigen Ertrag dem Herrn der Hube. Der Herr iſt mit der Frucht des Jahres wohl zufrieden, Und hat dem Knecht mehr als verdienten Lohn beſchieden. Der Knecht hat kaum den Muth ins Antlitz ihm zu ſchaun Daß er zum guten Herrn nicht hatte mehr Vertraun. Er geht beſchaͤmt und will gleich das Vergrabne holen, Doch am verborgnen Ort hat es ein Dieb geſtolen. Und ganz betroffen tritt er vor den Herren wieder; Der fragt: warum ſchlaͤgſt du vor mir die Augen nieder? Er ſpricht: Wie duͤrft' ich je zu dir ſie mehr erheben? Du haſt mir uͤber den verdienten Lohn gegeben. Ich aber habe mir mein Theil vorweg genommen; Nun ich es bringen wollt', iſt es abhanden kommen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0092" n="82"/> <lg n="8"> <l>„Wer weiß, ob mir der Herr den vollen Lohn wird geben?</l><lb/> <l>Zu meiner Sicherheit behalt' ich etwas eben.</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Hier am verborgnen Ort will ich ein Theil bewahren,</l><lb/> <l>Bis die Geſinnung dort des Herrn ich hab' erfahren.“</l> </lg><lb/> <lg n="10"> <l>Der Koͤrner einen Theil vergraͤbt er in der Grube,</l><lb/> <l>Und bringt den uͤbrigen Ertrag dem Herrn der Hube.</l> </lg><lb/> <lg n="11"> <l>Der Herr iſt mit der Frucht des Jahres wohl zufrieden,</l><lb/> <l>Und hat dem Knecht mehr als verdienten Lohn beſchieden.</l> </lg><lb/> <lg n="12"> <l>Der Knecht hat kaum den Muth ins Antlitz ihm zu ſchaun</l><lb/> <l>Daß er zum guten Herrn nicht hatte mehr Vertraun.</l> </lg><lb/> <lg n="13"> <l>Er geht beſchaͤmt und will gleich das Vergrabne holen,</l><lb/> <l>Doch am verborgnen Ort hat es ein Dieb geſtolen.</l> </lg><lb/> <lg n="14"> <l>Und ganz betroffen tritt er vor den Herren wieder;</l><lb/> <l>Der fragt: warum ſchlaͤgſt du vor mir die Augen nieder?</l> </lg><lb/> <lg n="15"> <l>Er ſpricht: Wie duͤrft' ich je zu dir ſie mehr erheben?</l><lb/> <l>Du haſt mir uͤber den verdienten Lohn gegeben.</l> </lg><lb/> <lg n="16"> <l>Ich aber habe mir mein Theil vorweg genommen;</l><lb/> <l>Nun ich es bringen wollt', iſt es abhanden kommen.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0092]
„Wer weiß, ob mir der Herr den vollen Lohn wird geben?
Zu meiner Sicherheit behalt' ich etwas eben.
Hier am verborgnen Ort will ich ein Theil bewahren,
Bis die Geſinnung dort des Herrn ich hab' erfahren.“
Der Koͤrner einen Theil vergraͤbt er in der Grube,
Und bringt den uͤbrigen Ertrag dem Herrn der Hube.
Der Herr iſt mit der Frucht des Jahres wohl zufrieden,
Und hat dem Knecht mehr als verdienten Lohn beſchieden.
Der Knecht hat kaum den Muth ins Antlitz ihm zu ſchaun
Daß er zum guten Herrn nicht hatte mehr Vertraun.
Er geht beſchaͤmt und will gleich das Vergrabne holen,
Doch am verborgnen Ort hat es ein Dieb geſtolen.
Und ganz betroffen tritt er vor den Herren wieder;
Der fragt: warum ſchlaͤgſt du vor mir die Augen nieder?
Er ſpricht: Wie duͤrft' ich je zu dir ſie mehr erheben?
Du haſt mir uͤber den verdienten Lohn gegeben.
Ich aber habe mir mein Theil vorweg genommen;
Nun ich es bringen wollt', iſt es abhanden kommen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane01_1836 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane01_1836/92 |
Zitationshilfe: | Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane01_1836/92>, abgerufen am 25.07.2024. |