Wie die erste Reise den Woldemar gebildet, habe ich Dir schon einmal gesagt: oft kömmt er mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von Platov. -- Jda sagte neulich: Tante, wie ist es, daß ich den Bruder jetzt so anders liebe, als ehe- mals? besonders seit er krank war? Er kommt mir jetzt noch viel verständiger vor, als sonst; und ich denke, er allein müßte mich beschützen können, wenn ich in Gefahr wäre. -- Das würde er auch können, Jda; er hat viel Muth, viel Entschlos- senheit, und das ist es, was du in ihm so sehr achtest. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu ihm eine so andere Gestalt gegeben. Dies Zu- trauen und diese Achtung müssen noch immer wach- sen, so wie Woldemar an Kraft und Muth zu- nimmt. -- Jn dem Bruder hat die Natur uns Frauen den Stellvertreter des Vaters angewiesen. Und wenn der Bruder ganz das ist, was dein Woldemar täglich mehr und mehr wird: so ent- steht in dem Schwesterherzen ganz von selbst ein Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli- chen Folgsamkeit, die ein großherziger Mann nicht als einen schuldigen Tribut fodert, sondern als
Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet, habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von Platov. — Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es, daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe- mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und ich denke, er allein müßte mich beſchützen können, wenn ich in Gefahr wäre. — Das würde er auch können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ- ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu- trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach- ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu- nimmt. — Jn dem Bruder hat die Natur uns Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen. Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent- ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli- chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0070"n="62"/><p>Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet,<lb/>
habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er<lb/>
mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von<lb/>
Platov. — Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es,<lb/>
daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe-<lb/>
mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt<lb/>
mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und<lb/>
ich denke, er allein müßte mich beſchützen können,<lb/>
wenn ich in Gefahr wäre. — Das würde er auch<lb/>
können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ-<lb/>ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr<lb/>
achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu<lb/>
ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu-<lb/>
trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach-<lb/>ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu-<lb/>
nimmt. — Jn dem Bruder hat die Natur uns<lb/>
Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen.<lb/>
Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein<lb/>
Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent-<lb/>ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein<lb/>
Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli-<lb/>
chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht<lb/>
als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[62/0070]
Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet,
habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er
mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von
Platov. — Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es,
daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe-
mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt
mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und
ich denke, er allein müßte mich beſchützen können,
wenn ich in Gefahr wäre. — Das würde er auch
können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ-
ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr
achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu
ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu-
trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach-
ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu-
nimmt. — Jn dem Bruder hat die Natur uns
Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen.
Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein
Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent-
ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein
Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli-
chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht
als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/70>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.