Natur erzielet. Vor beiden laß Deine liebliche Virginia bewahrt bleiben. Wäre Jda, die mit der Virginia die höchste Aehnlichkeit zu haben scheint, in ihrer weichen Zartheit zu sehr begün- stigt, hätte man das an ihr gelobt und mit be- sonderer Aufmerksamkeit gehegt, gepflegt, her- vorgezogen, was ihre Naturanlage nun so mit sich brachte: so müßte sie jetzt eines der weichlich- sten, schwächlichsten, reitzbarsten, überspannte- sten Wesen seyn. Aber welch' eine schöne Gewalt hat sie über sich und ihre Schwäche, und welch' holde Fröhlichkeit herrscht durch ihr ganzes Seyn! Wäre Mathilde von frühem an den Weg geführt worden, den man seitdem mit ihr nahm, hätte man früh ihrer Kraft die rechte Richtung an- gewiesen --: wie schön harmonisch müßte sie sich entfaltet haben! Jetzt muß sie durch sauern Kampf das Versäumte erringen und die Falten des Cha- rakters wieder ausarbeiten, worüber sie ihres schönen Lebensmorgens nicht recht froh werden kann. O laß es mit Kathinka nicht eben dahin kommen, ich bitte Dich herzlich. Jhr "Ka- thinka will, und Kathinka will nicht" darf
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Natur erzielet. Vor beiden laß Deine liebliche Virginia bewahrt bleiben. Wäre Jda, die mit der Virginia die höchſte Aehnlichkeit zu haben ſcheint, in ihrer weichen Zartheit zu ſehr begün- ſtigt, hätte man das an ihr gelobt und mit be- ſonderer Aufmerkſamkeit gehegt, gepflegt, her- vorgezogen, was ihre Naturanlage nun ſo mit ſich brachte: ſo müßte ſie jetzt eines der weichlich- ſten, ſchwächlichſten, reitzbarſten, überſpannte- ſten Weſen ſeyn. Aber welch’ eine ſchöne Gewalt hat ſie über ſich und ihre Schwäche, und welch’ holde Fröhlichkeit herrſcht durch ihr ganzes Seyn! Wäre Mathilde von frühem an den Weg geführt worden, den man ſeitdem mit ihr nahm, hätte man früh ihrer Kraft die rechte Richtung an- gewieſen —: wie ſchön harmoniſch müßte ſie ſich entfaltet haben! Jetzt muß ſie durch ſauern Kampf das Verſäumte erringen und die Falten des Cha- rakters wieder ausarbeiten, worüber ſie ihres ſchönen Lebensmorgens nicht recht froh werden kann. O laß es mit Kathinka nicht eben dahin kommen, ich bitte Dich herzlich. Jhr „Ka- thinka will, und Kathinka will nicht‟ darf
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Natur erzielet. Vor beiden laß Deine liebliche
Virginia bewahrt bleiben. Wäre Jda, die mit
der Virginia die höchſte Aehnlichkeit zu haben
ſcheint, in ihrer weichen Zartheit zu ſehr begün-
ſtigt, hätte man das an ihr gelobt und mit be-
ſonderer Aufmerkſamkeit gehegt, gepflegt, her-
vorgezogen, was ihre Naturanlage nun ſo mit
ſich brachte: ſo müßte ſie jetzt eines der weichlich-
ſten, ſchwächlichſten, reitzbarſten, überſpannte-
ſten Weſen ſeyn. Aber welch’ eine ſchöne Gewalt
hat ſie über ſich und ihre Schwäche, und welch’
holde Fröhlichkeit herrſcht durch ihr ganzes Seyn!
Wäre Mathilde von frühem an den Weg geführt
worden, den man ſeitdem mit ihr nahm, hätte
man früh ihrer Kraft die rechte Richtung an-
gewieſen —: wie ſchön harmoniſch müßte ſie ſich
entfaltet haben! Jetzt muß ſie durch ſauern Kampf
das Verſäumte erringen und die Falten des Cha-
rakters wieder ausarbeiten, worüber ſie ihres
ſchönen Lebensmorgens nicht recht froh werden
kann. O laß es mit Kathinka nicht eben dahin
kommen, ich bitte Dich herzlich. Jhr „Ka-
thinka will, und Kathinka will nicht‟ darf
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/65>, abgerufen am 23.11.2024.
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