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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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gen verwöhnt; es war ihr ein zu großes Bedürf-
niß geworden. Milly hat unter vielen Eigenhei-
ten auch die, niemanden küssen zu wollen. Auch
mir reicht sie zum guten Morgen und zur guten
Nacht bloß die Hand: noch nie hat sie etwas
mehr gethan. Daß ich sie in Rücksicht auf mich
und alle andere dabei lasse, versteht sich. Nie
soll ein Erwachsener beim Kinde um
Liebkosungen betteln
; und das aus vielen
Gründen nicht, von dem ein einziger genug wäre.
Aber wenn nun die zarte, verwöhnte, empfindli-
che Seraphine die spröde Milly oft so zärtlich um
"einen einzigen ganz kleinen Kuß, nur einen,"
flehet, und ich es ihr nicht begreiflich machen
kann, warum man den von niemand so fordern
soll, dann stehe ich oft bei mir an, ob ich nicht
für Seraphine bei dem kleinen Trotzkopfe bitten
soll. -- "Aber warum denn die Milly mich gar
nicht küssen will? ich sie doch so lieb habe" --
kam sie heute klagend zu mir.

Jch. Liebe Seraphine, gehest du gern schlafen,
wenn du nicht müde bist? Nein, Tante, dann
ich nicht gern schlafen gehe. Wenn man dir zu



gen verwöhnt; es war ihr ein zu großes Bedürf-
niß geworden. Milly hat unter vielen Eigenhei-
ten auch die, niemanden küſſen zu wollen. Auch
mir reicht ſie zum guten Morgen und zur guten
Nacht bloß die Hand: noch nie hat ſie etwas
mehr gethan. Daß ich ſie in Rückſicht auf mich
und alle andere dabei laſſe, verſteht ſich. Nie
ſoll ein Erwachſener beim Kinde um
Liebkoſungen betteln
; und das aus vielen
Gründen nicht, von dem ein einziger genug wäre.
Aber wenn nun die zarte, verwöhnte, empfindli-
che Seraphine die ſpröde Milly oft ſo zärtlich um
„einen einzigen ganz kleinen Kuß, nur einen,
flehet, und ich es ihr nicht begreiflich machen
kann, warum man den von niemand ſo fordern
ſoll, dann ſtehe ich oft bei mir an, ob ich nicht
für Seraphine bei dem kleinen Trotzkopfe bitten
ſoll. — „Aber warum denn die Milly mich gar
nicht küſſen will? ich ſie doch ſo lieb habe‟ —
kam ſie heute klagend zu mir.

Jch. Liebe Seraphine, geheſt du gern ſchlafen,
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ich nicht gern ſchlafen gehe. Wenn man dir zu

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[371/0379] gen verwöhnt; es war ihr ein zu großes Bedürf- niß geworden. Milly hat unter vielen Eigenhei- ten auch die, niemanden küſſen zu wollen. Auch mir reicht ſie zum guten Morgen und zur guten Nacht bloß die Hand: noch nie hat ſie etwas mehr gethan. Daß ich ſie in Rückſicht auf mich und alle andere dabei laſſe, verſteht ſich. Nie ſoll ein Erwachſener beim Kinde um Liebkoſungen betteln; und das aus vielen Gründen nicht, von dem ein einziger genug wäre. Aber wenn nun die zarte, verwöhnte, empfindli- che Seraphine die ſpröde Milly oft ſo zärtlich um „einen einzigen ganz kleinen Kuß, nur einen,‟ flehet, und ich es ihr nicht begreiflich machen kann, warum man den von niemand ſo fordern ſoll, dann ſtehe ich oft bei mir an, ob ich nicht für Seraphine bei dem kleinen Trotzkopfe bitten ſoll. — „Aber warum denn die Milly mich gar nicht küſſen will? ich ſie doch ſo lieb habe‟ — kam ſie heute klagend zu mir. Jch. Liebe Seraphine, geheſt du gern ſchlafen, wenn du nicht müde biſt? Nein, Tante, dann ich nicht gern ſchlafen gehe. Wenn man dir zu

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/379>, abgerufen am 22.11.2024.