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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Existenz willen geschlossen. Wollt ihr aber, ihr
Mütter, hart seyn, und euern Töchtern das Pa-
radies der Liebe verschließen, so erreicht ihr euren
Zweck am sichersten, wenn ihr eure Töchter vom
zwölften Jahre an, oder noch früher, ihren Lese-
hunger aus den Leihbibliotheken nach Herzens-
wunsch befriedigen laßt, oder sie selbst mit Roma-
nen und Schauspielen vom gewöhnlichen Schlage
fleißig versorgt. "Aber, sprecht ihr, Schauspiele
und Romane sind ja oft lehrreicher als Predig-
ten; warum sollen die jungen Mädchen sie nicht
zu ihrer Bildung und Besserung lesen?" -- Zu
ihrer Bildung
soll man ihnen aus allen Mei-
sterwerken das zarteste und schönste auswählen,
und mit ihnen lesen, oder sich das strenggewählte
von ihnen vorlesen lassen. Nun ist aber keine
Gattung von Geistes- oder vielmehr von Feder-
produkten reicher an Ausschuß oder Mißgut, und
ärmer an Meisterwerk, als eben diese beiden Gat-
tungen, in welchen auch die Nachahmer der Nach-
ahmer immer noch von spätern Nachschreibern be-
raubt werden, und wo an keine Originalität zu
denken ist, wenn man die wenigen großen Namen



Exiſtenz willen geſchloſſen. Wollt ihr aber, ihr
Mütter, hart ſeyn, und euern Töchtern das Pa-
radies der Liebe verſchließen, ſo erreicht ihr euren
Zweck am ſicherſten, wenn ihr eure Töchter vom
zwölften Jahre an, oder noch früher, ihren Leſe-
hunger aus den Leihbibliotheken nach Herzens-
wunſch befriedigen laßt, oder ſie ſelbſt mit Roma-
nen und Schauſpielen vom gewöhnlichen Schlage
fleißig verſorgt. „Aber, ſprecht ihr, Schauſpiele
und Romane ſind ja oft lehrreicher als Predig-
ten; warum ſollen die jungen Mädchen ſie nicht
zu ihrer Bildung und Beſſerung leſen?‟ — Zu
ihrer Bildung
ſoll man ihnen aus allen Mei-
ſterwerken das zarteſte und ſchönſte auswählen,
und mit ihnen leſen, oder ſich das ſtrenggewählte
von ihnen vorleſen laſſen. Nun iſt aber keine
Gattung von Geiſtes- oder vielmehr von Feder-
produkten reicher an Ausſchuß oder Mißgut, und
ärmer an Meiſterwerk, als eben dieſe beiden Gat-
tungen, in welchen auch die Nachahmer der Nach-
ahmer immer noch von ſpätern Nachſchreibern be-
raubt werden, und wo an keine Originalität zu
denken iſt, wenn man die wenigen großen Namen

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[324/0332] Exiſtenz willen geſchloſſen. Wollt ihr aber, ihr Mütter, hart ſeyn, und euern Töchtern das Pa- radies der Liebe verſchließen, ſo erreicht ihr euren Zweck am ſicherſten, wenn ihr eure Töchter vom zwölften Jahre an, oder noch früher, ihren Leſe- hunger aus den Leihbibliotheken nach Herzens- wunſch befriedigen laßt, oder ſie ſelbſt mit Roma- nen und Schauſpielen vom gewöhnlichen Schlage fleißig verſorgt. „Aber, ſprecht ihr, Schauſpiele und Romane ſind ja oft lehrreicher als Predig- ten; warum ſollen die jungen Mädchen ſie nicht zu ihrer Bildung und Beſſerung leſen?‟ — Zu ihrer Bildung ſoll man ihnen aus allen Mei- ſterwerken das zarteſte und ſchönſte auswählen, und mit ihnen leſen, oder ſich das ſtrenggewählte von ihnen vorleſen laſſen. Nun iſt aber keine Gattung von Geiſtes- oder vielmehr von Feder- produkten reicher an Ausſchuß oder Mißgut, und ärmer an Meiſterwerk, als eben dieſe beiden Gat- tungen, in welchen auch die Nachahmer der Nach- ahmer immer noch von ſpätern Nachſchreibern be- raubt werden, und wo an keine Originalität zu denken iſt, wenn man die wenigen großen Namen

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/332>, abgerufen am 24.11.2024.