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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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thilde kam gestern Abend zu mir am Bette, als
Jda schon schlief, oder zu schlafen schien, und
wollte Trost von mir über Jda's unergründlichen
Trübsinn. "Was kann dem heitern Engel feh-
len, meine beste Tante? Jst er nicht angebetet
von uns allen? Uns alle übertraf Jda noch vor
kurzem an himmlischer Heiterkeit, und nun -- je
mehr sie lächelt, je liebreicher sie gegen uns an-
dere ist, je mehr sieht man's, daß sie uns etwas
verbirgt -- und was kann dieses unglückliche Et-
was seyn, das nur zu sichtbarlich an ihren Wan-
gen zehrt? Kannst du mir es sagen, Tante?"
Meine gute Mathilde, erlaß mir die eigentliche
Antwort auf deine | Frage noch eine kurze Zeit;
es muß sich bald enthüllen, was diese Verände-
rung bei Jda bewirkt hat. Du sagtest, sie sey
von uns allen geliebt -- gib Acht, ob nicht eines
in der Gesellschaft vielleicht kälter gegen sie ist,
als sonst. Jda ist viel Liebe gewohnt, sie ist im
Hauche der Liebe aufgewachsen; Liebe ist das Ele-
ment, in welchem allein sie gedeihen kann.

Mathilde. Ach Tante, es geht mir jetzt ein
Licht auf. Ja, einer in der Gesellschaft ist ganz



thilde kam geſtern Abend zu mir am Bette, als
Jda ſchon ſchlief, oder zu ſchlafen ſchien, und
wollte Troſt von mir über Jda’s unergründlichen
Trübſinn. „Was kann dem heitern Engel feh-
len, meine beſte Tante? Jſt er nicht angebetet
von uns allen? Uns alle übertraf Jda noch vor
kurzem an himmliſcher Heiterkeit, und nun — je
mehr ſie lächelt, je liebreicher ſie gegen uns an-
dere iſt, je mehr ſieht man’s, daß ſie uns etwas
verbirgt — und was kann dieſes unglückliche Et-
was ſeyn, das nur zu ſichtbarlich an ihren Wan-
gen zehrt? Kannſt du mir es ſagen, Tante?‟
Meine gute Mathilde, erlaß mir die eigentliche
Antwort auf deine | Frage noch eine kurze Zeit;
es muß ſich bald enthüllen, was dieſe Verände-
rung bei Jda bewirkt hat. Du ſagteſt, ſie ſey
von uns allen geliebt — gib Acht, ob nicht eines
in der Geſellſchaft vielleicht kälter gegen ſie iſt,
als ſonſt. Jda iſt viel Liebe gewohnt, ſie iſt im
Hauche der Liebe aufgewachſen; Liebe iſt das Ele-
ment, in welchem allein ſie gedeihen kann.

Mathilde. Ach Tante, es geht mir jetzt ein
Licht auf. Ja, einer in der Geſellſchaft iſt ganz

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[309/0317] thilde kam geſtern Abend zu mir am Bette, als Jda ſchon ſchlief, oder zu ſchlafen ſchien, und wollte Troſt von mir über Jda’s unergründlichen Trübſinn. „Was kann dem heitern Engel feh- len, meine beſte Tante? Jſt er nicht angebetet von uns allen? Uns alle übertraf Jda noch vor kurzem an himmliſcher Heiterkeit, und nun — je mehr ſie lächelt, je liebreicher ſie gegen uns an- dere iſt, je mehr ſieht man’s, daß ſie uns etwas verbirgt — und was kann dieſes unglückliche Et- was ſeyn, das nur zu ſichtbarlich an ihren Wan- gen zehrt? Kannſt du mir es ſagen, Tante?‟ Meine gute Mathilde, erlaß mir die eigentliche Antwort auf deine | Frage noch eine kurze Zeit; es muß ſich bald enthüllen, was dieſe Verände- rung bei Jda bewirkt hat. Du ſagteſt, ſie ſey von uns allen geliebt — gib Acht, ob nicht eines in der Geſellſchaft vielleicht kälter gegen ſie iſt, als ſonſt. Jda iſt viel Liebe gewohnt, ſie iſt im Hauche der Liebe aufgewachſen; Liebe iſt das Ele- ment, in welchem allein ſie gedeihen kann. Mathilde. Ach Tante, es geht mir jetzt ein Licht auf. Ja, einer in der Geſellſchaft iſt ganz

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/317>, abgerufen am 22.11.2024.