Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite


Wir reisen sehr langsam, überall, wo wir er-
schienen, erregte der Zug ein lustiges Erstaunen.
Wenn wir Abends reisen, wird viel im Wagen
gesungen. Das hält auch unsere Kutscher wach.
Mathilde spielte die Guitarre dazu, und die be-
gleitet uns auch auf unsern Wanderungen.

Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben
wir heute die erste flüchtige Nachricht erhalten.
Sie sind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre
wird nur wenig Zeit zur Anstalt für ihre Gäste
behalten. Seraphine nennt unser aller Namen
stündlich, küßt unsere Bildnisse, legt Blumen auf
meinen Tisch, wenn sie aus dem Garten kommt,
und wiederholt sich unaufhörlich den Trost: Mut-
ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt,
und alle bald wieder kommen. Wie leicht ist auch
das weichste Kinderherz getröstet! Alles währt bei
ihm einen Augenblick: selbst die schönste Anhäng-
lichkeit erstirbt, wenn ihm der Gegenstand lange
aus den Augen gerückt bleibt. -- Wollen wir die
Kindheit darüber anklagen? O nein! Willst du,
o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr-
schen, ununterbrochen fortleben -- so sey unzer-

(39)


Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er-
ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen.
Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen
geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach.
Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be-
gleitet uns auch auf unſern Wanderungen.

Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben
wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten.
Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre
wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte
behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen
ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf
meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt,
und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut-
ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt,
und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch
das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei
ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng-
lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange
aus den Augen gerückt bleibt. — Wollen wir die
Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du,
o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr-
ſchen, ununterbrochen fortleben — ſo ſey unzer-

(39)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0313" n="305"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Wir rei&#x017F;en &#x017F;ehr lang&#x017F;am, überall, wo wir er-<lb/>
&#x017F;chienen, erregte der Zug ein lu&#x017F;tiges Er&#x017F;taunen.<lb/>
Wenn wir Abends rei&#x017F;en, wird viel im Wagen<lb/>
ge&#x017F;ungen. Das hält auch un&#x017F;ere Kut&#x017F;cher wach.<lb/>
Mathilde &#x017F;pielte die Guitarre dazu, und die be-<lb/>
gleitet uns auch auf un&#x017F;ern Wanderungen.</p><lb/>
          <p>Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben<lb/>
wir heute die er&#x017F;te flüchtige Nachricht erhalten.<lb/>
Sie &#x017F;ind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre<lb/>
wird nur wenig Zeit zur An&#x017F;talt für ihre Gä&#x017F;te<lb/>
behalten. Seraphine nennt un&#x017F;er aller Namen<lb/>
&#x017F;tündlich, küßt un&#x017F;ere Bildni&#x017F;&#x017F;e, legt Blumen auf<lb/>
meinen Ti&#x017F;ch, wenn &#x017F;ie aus dem Garten kommt,<lb/>
und wiederholt &#x017F;ich unaufhörlich den Tro&#x017F;t: Mut-<lb/>
ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt,<lb/>
und alle bald wieder kommen. Wie leicht i&#x017F;t auch<lb/>
das weich&#x017F;te Kinderherz getrö&#x017F;tet! Alles währt bei<lb/>
ihm einen Augenblick: &#x017F;elb&#x017F;t die &#x017F;chön&#x017F;te Anhäng-<lb/>
lichkeit er&#x017F;tirbt, wenn ihm der Gegen&#x017F;tand lange<lb/>
aus den Augen gerückt bleibt. &#x2014; Wollen wir die<lb/>
Kindheit darüber anklagen? O nein! Will&#x017F;t du,<lb/>
o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr-<lb/>
&#x017F;chen, ununterbrochen fortleben &#x2014; &#x017F;o &#x017F;ey unzer-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">(39)</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0313] Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er- ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen. Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach. Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be- gleitet uns auch auf unſern Wanderungen. Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten. Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt, und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut- ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt, und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng- lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange aus den Augen gerückt bleibt. — Wollen wir die Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du, o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr- ſchen, ununterbrochen fortleben — ſo ſey unzer- (39)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/313
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/313>, abgerufen am 22.11.2024.