Wir reisen sehr langsam, überall, wo wir er- schienen, erregte der Zug ein lustiges Erstaunen. Wenn wir Abends reisen, wird viel im Wagen gesungen. Das hält auch unsere Kutscher wach. Mathilde spielte die Guitarre dazu, und die be- gleitet uns auch auf unsern Wanderungen.
Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben wir heute die erste flüchtige Nachricht erhalten. Sie sind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre wird nur wenig Zeit zur Anstalt für ihre Gäste behalten. Seraphine nennt unser aller Namen stündlich, küßt unsere Bildnisse, legt Blumen auf meinen Tisch, wenn sie aus dem Garten kommt, und wiederholt sich unaufhörlich den Trost: Mut- ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt, und alle bald wieder kommen. Wie leicht ist auch das weichste Kinderherz getröstet! Alles währt bei ihm einen Augenblick: selbst die schönste Anhäng- lichkeit erstirbt, wenn ihm der Gegenstand lange aus den Augen gerückt bleibt. -- Wollen wir die Kindheit darüber anklagen? O nein! Willst du, o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr- schen, ununterbrochen fortleben -- so sey unzer-
(39)
Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er- ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen. Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach. Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be- gleitet uns auch auf unſern Wanderungen.
Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten. Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt, und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut- ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt, und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng- lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange aus den Augen gerückt bleibt. — Wollen wir die Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du, o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr- ſchen, ununterbrochen fortleben — ſo ſey unzer-
(39)
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0313"n="305"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er-<lb/>ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen.<lb/>
Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen<lb/>
geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach.<lb/>
Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be-<lb/>
gleitet uns auch auf unſern Wanderungen.</p><lb/><p>Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben<lb/>
wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten.<lb/>
Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre<lb/>
wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte<lb/>
behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen<lb/>ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf<lb/>
meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt,<lb/>
und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut-<lb/>
ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt,<lb/>
und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch<lb/>
das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei<lb/>
ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng-<lb/>
lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange<lb/>
aus den Augen gerückt bleibt. — Wollen wir die<lb/>
Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du,<lb/>
o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr-<lb/>ſchen, ununterbrochen fortleben —ſo ſey unzer-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">(39)</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[305/0313]
Wir reiſen ſehr langſam, überall, wo wir er-
ſchienen, erregte der Zug ein luſtiges Erſtaunen.
Wenn wir Abends reiſen, wird viel im Wagen
geſungen. Das hält auch unſere Kutſcher wach.
Mathilde ſpielte die Guitarre dazu, und die be-
gleitet uns auch auf unſern Wanderungen.
Von Clärchen, Bruno und der Kleinen haben
wir heute die erſte flüchtige Nachricht erhalten.
Sie ſind glücklich in Genf eingetroffen, und Cläre
wird nur wenig Zeit zur Anſtalt für ihre Gäſte
behalten. Seraphine nennt unſer aller Namen
ſtündlich, küßt unſere Bildniſſe, legt Blumen auf
meinen Tiſch, wenn ſie aus dem Garten kommt,
und wiederholt ſich unaufhörlich den Troſt: Mut-
ter bald wieder kommen, Jda bald wieder kommt,
und alle bald wieder kommen. Wie leicht iſt auch
das weichſte Kinderherz getröſtet! Alles währt bei
ihm einen Augenblick: ſelbſt die ſchönſte Anhäng-
lichkeit erſtirbt, wenn ihm der Gegenſtand lange
aus den Augen gerückt bleibt. — Wollen wir die
Kindheit darüber anklagen? O nein! Willſt du,
o Mutter! in deines Kindes Seele einzig herr-
ſchen, ununterbrochen fortleben — ſo ſey unzer-
(39)
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/313>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.