Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.es zu gleicher Stunde geschehen, dann wird Sera- phine schlafend zu Clärchen und Bruno und der Lisel in den Wagen gehoben, und ihr Wagen fährt zuerst nach Südwesten -- wir gen Nordosten. Der Abschied von Clärchen und Bruno darf nicht in des Kindes Gegenwart genommen werden. Es fragte mich einmal jemand, ob eine so heimliche Veranstaltung, wodurch ein Kind um einen natür- lichen und gerechten Schmerz betrogen werde, nicht dem jungen Gemüthe schädlich sey, und ob er nicht wie jeder andere gutgemeynte Betrug mehr Unheil stifte, als durch ihn verhütet werden soll? Jch antwortete bloß verneinend. Man entließ mich aber nicht ohne Gründe. Ein Kind, sagte ich darauf, hat, so lange es noch ganz klein und un- mündig ist, mit allen unmündigen Geschöpfen, nemlich den Thieren, gerechte Ansprüche an die Menschen, wie an das Schicksal, es in wohlthä- tiger Unwissenheit über bevorstehende Übel zu las- sen, und es kein unabwendbares Leiden eher füh- len zu lassen, als in dem Moment wo es da ist. Der erwachsene Mensch empfindet alles Wohl und alles Wehe dreifach, und er darf nicht klagen, es zu gleicher Stunde geſchehen, dann wird Sera- phine ſchlafend zu Clärchen und Bruno und der Liſel in den Wagen gehoben, und ihr Wagen fährt zuerſt nach Südweſten — wir gen Nordoſten. Der Abſchied von Clärchen und Bruno darf nicht in des Kindes Gegenwart genommen werden. Es fragte mich einmal jemand, ob eine ſo heimliche Veranſtaltung, wodurch ein Kind um einen natür- lichen und gerechten Schmerz betrogen werde, nicht dem jungen Gemüthe ſchädlich ſey, und ob er nicht wie jeder andere gutgemeynte Betrug mehr Unheil ſtifte, als durch ihn verhütet werden ſoll? Jch antwortete bloß verneinend. Man entließ mich aber nicht ohne Gründe. Ein Kind, ſagte ich darauf, hat, ſo lange es noch ganz klein und un- mündig iſt, mit allen unmündigen Geſchöpfen, nemlich den Thieren, gerechte Anſprüche an die Menſchen, wie an das Schickſal, es in wohlthä- tiger Unwiſſenheit über bevorſtehende Übel zu laſ- ſen, und es kein unabwendbares Leiden eher füh- len zu laſſen, als in dem Moment wo es da iſt. Der erwachſene Menſch empfindet alles Wohl und alles Wehe dreifach, und er darf nicht klagen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0308" n="300"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> es zu gleicher Stunde geſchehen, dann wird Sera-<lb/> phine ſchlafend zu Clärchen und Bruno und der<lb/> Liſel in den Wagen gehoben, und ihr Wagen fährt<lb/> zuerſt nach Südweſten — wir gen Nordoſten.<lb/> Der Abſchied von Clärchen und Bruno darf nicht<lb/> in des Kindes Gegenwart genommen werden. Es<lb/> fragte mich einmal jemand, ob eine ſo heimliche<lb/> Veranſtaltung, wodurch ein Kind um einen natür-<lb/> lichen und gerechten Schmerz betrogen werde, nicht<lb/> dem jungen Gemüthe ſchädlich ſey, und ob er nicht<lb/> wie jeder andere gutgemeynte Betrug mehr Unheil<lb/> ſtifte, als durch ihn verhütet werden ſoll? Jch<lb/> antwortete bloß verneinend. Man entließ mich<lb/> aber nicht ohne Gründe. Ein Kind, ſagte ich<lb/> darauf, hat, ſo lange es noch ganz klein und un-<lb/> mündig iſt, mit allen unmündigen Geſchöpfen,<lb/> nemlich den Thieren, gerechte Anſprüche an die<lb/> Menſchen, wie an das Schickſal, es in wohlthä-<lb/> tiger Unwiſſenheit über bevorſtehende Übel zu laſ-<lb/> ſen, und es kein unabwendbares Leiden eher füh-<lb/> len zu laſſen, als in dem Moment wo es da iſt.<lb/> Der erwachſene Menſch empfindet alles Wohl und<lb/> alles Wehe dreifach, und er darf nicht klagen,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [300/0308]
es zu gleicher Stunde geſchehen, dann wird Sera-
phine ſchlafend zu Clärchen und Bruno und der
Liſel in den Wagen gehoben, und ihr Wagen fährt
zuerſt nach Südweſten — wir gen Nordoſten.
Der Abſchied von Clärchen und Bruno darf nicht
in des Kindes Gegenwart genommen werden. Es
fragte mich einmal jemand, ob eine ſo heimliche
Veranſtaltung, wodurch ein Kind um einen natür-
lichen und gerechten Schmerz betrogen werde, nicht
dem jungen Gemüthe ſchädlich ſey, und ob er nicht
wie jeder andere gutgemeynte Betrug mehr Unheil
ſtifte, als durch ihn verhütet werden ſoll? Jch
antwortete bloß verneinend. Man entließ mich
aber nicht ohne Gründe. Ein Kind, ſagte ich
darauf, hat, ſo lange es noch ganz klein und un-
mündig iſt, mit allen unmündigen Geſchöpfen,
nemlich den Thieren, gerechte Anſprüche an die
Menſchen, wie an das Schickſal, es in wohlthä-
tiger Unwiſſenheit über bevorſtehende Übel zu laſ-
ſen, und es kein unabwendbares Leiden eher füh-
len zu laſſen, als in dem Moment wo es da iſt.
Der erwachſene Menſch empfindet alles Wohl und
alles Wehe dreifach, und er darf nicht klagen,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/308 |
Zitationshilfe: | Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/308>, abgerufen am 24.07.2024. |