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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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mir sehet. Wir beschauten ihn genau -- nun
wenn mich denn weder Wacker noch sonst eines ge-
bissen hat, so gehe auch Du einmal hinaus, sagte
er zu meinem Bruder, und so mußte der Bruder
gehen, dann kam die Reihe an mich: ich ging mit
einigem Zagen, aber des Vaters komische Auffor-
derung ihn zu beleuchten, hatte uns alle und auch
mich einmal so heiter gemacht, daß die Angst schon
halb verschmerzt war, auch ich kam triumphirend
herein als ob ich von keiner Furcht wüßte. Und
so ward ich nach und nach von mancher Furcht frei,
und hätte nie mehr an dieser schweren Kinderplage
gelitten, hätte ich nicht den trefflichen Vater in
meinem 8ten Jahre schon verloren, und hätten mir
nicht späterhin durch die Schuld des Gesindes, die
Gewitter, das Nordlicht, das Erdbeben, der jüng-
ste Tag und die gesammte Geisterwelt so unsägliche
Angst gemacht, daß ich meines kindlichen Lebens
gar nicht froh werden konnte. Meine eigne Er-
fahrung von der Größe des Übels hat mich die Sa-
che als wichtig in der Erziehung ansehen gemacht.
Wo die Furcht in einem Kinderherzen einmal ein-
heimisch worden, da können viele Jahre hingehen,



mir ſehet. Wir beſchauten ihn genau — nun
wenn mich denn weder Wacker noch ſonſt eines ge-
biſſen hat, ſo gehe auch Du einmal hinaus, ſagte
er zu meinem Bruder, und ſo mußte der Bruder
gehen, dann kam die Reihe an mich: ich ging mit
einigem Zagen, aber des Vaters komiſche Auffor-
derung ihn zu beleuchten, hatte uns alle und auch
mich einmal ſo heiter gemacht, daß die Angſt ſchon
halb verſchmerzt war, auch ich kam triumphirend
herein als ob ich von keiner Furcht wüßte. Und
ſo ward ich nach und nach von mancher Furcht frei,
und hätte nie mehr an dieſer ſchweren Kinderplage
gelitten, hätte ich nicht den trefflichen Vater in
meinem 8ten Jahre ſchon verloren, und hätten mir
nicht ſpäterhin durch die Schuld des Geſindes, die
Gewitter, das Nordlicht, das Erdbeben, der jüng-
ſte Tag und die geſammte Geiſterwelt ſo unſägliche
Angſt gemacht, daß ich meines kindlichen Lebens
gar nicht froh werden konnte. Meine eigne Er-
fahrung von der Größe des Übels hat mich die Sa-
che als wichtig in der Erziehung anſehen gemacht.
Wo die Furcht in einem Kinderherzen einmal ein-
heimiſch worden, da können viele Jahre hingehen,

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[269/0277] mir ſehet. Wir beſchauten ihn genau — nun wenn mich denn weder Wacker noch ſonſt eines ge- biſſen hat, ſo gehe auch Du einmal hinaus, ſagte er zu meinem Bruder, und ſo mußte der Bruder gehen, dann kam die Reihe an mich: ich ging mit einigem Zagen, aber des Vaters komiſche Auffor- derung ihn zu beleuchten, hatte uns alle und auch mich einmal ſo heiter gemacht, daß die Angſt ſchon halb verſchmerzt war, auch ich kam triumphirend herein als ob ich von keiner Furcht wüßte. Und ſo ward ich nach und nach von mancher Furcht frei, und hätte nie mehr an dieſer ſchweren Kinderplage gelitten, hätte ich nicht den trefflichen Vater in meinem 8ten Jahre ſchon verloren, und hätten mir nicht ſpäterhin durch die Schuld des Geſindes, die Gewitter, das Nordlicht, das Erdbeben, der jüng- ſte Tag und die geſammte Geiſterwelt ſo unſägliche Angſt gemacht, daß ich meines kindlichen Lebens gar nicht froh werden konnte. Meine eigne Er- fahrung von der Größe des Übels hat mich die Sa- che als wichtig in der Erziehung anſehen gemacht. Wo die Furcht in einem Kinderherzen einmal ein- heimiſch worden, da können viele Jahre hingehen,

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/277>, abgerufen am 22.11.2024.