Wenn die geknickte Natur der Kinder unsrer Freundin sich erst ein wenig wieder gehoben hat, und ihr Geist von dem lebendigen Odem der frischen Jugend noch einmal angehaucht ist, dann sollen sie auch mit uns lesen. Früher würde ihre untheil- nehmende Gegenwart uns stören, ohne ihnen er- sprießlich zu seyn.
Selbst Deine Freundin wird bei dem Genusse der herrlichsten Geistesprodukte unvermerkt von Mißmuth und Langerweile beschlichen, wenn sie müßige Ohren neben sich gewahr wird, durch wel- che nichts eindringen kann, und vollends Menschen, deren Herz allem Zarten und Schönen unerreich- bar ist. Mit unsern Kindern kann ich so man- chen der schönsten Genüsse theilen. Mathildens Geist kann recht starke Speise vertragen. Das Große, das Erhabene, das Romantische ergreift sie ganz besonders. Jda's lyrischer Geist kann sich besser mit der stilleren lyrischen Poesie befreunden. Neulich überraschte ich sie des Morgens frühe bei einem eigenen poetischen Versuche, den sie ins Reine schrieb. Als sie fertig war, legte sie das
Wenn die geknickte Natur der Kinder unſrer Freundin ſich erſt ein wenig wieder gehoben hat, und ihr Geiſt von dem lebendigen Odem der friſchen Jugend noch einmal angehaucht iſt, dann ſollen ſie auch mit uns leſen. Früher würde ihre untheil- nehmende Gegenwart uns ſtören, ohne ihnen er- ſprießlich zu ſeyn.
Selbſt Deine Freundin wird bei dem Genuſſe der herrlichſten Geiſtesprodukte unvermerkt von Mißmuth und Langerweile beſchlichen, wenn ſie müßige Ohren neben ſich gewahr wird, durch wel- che nichts eindringen kann, und vollends Menſchen, deren Herz allem Zarten und Schönen unerreich- bar iſt. Mit unſern Kindern kann ich ſo man- chen der ſchönſten Genüſſe theilen. Mathildens Geiſt kann recht ſtarke Speiſe vertragen. Das Große, das Erhabene, das Romantiſche ergreift ſie ganz beſonders. Jda’s lyriſcher Geiſt kann ſich beſſer mit der ſtilleren lyriſchen Poeſie befreunden. Neulich überraſchte ich ſie des Morgens frühe bei einem eigenen poetiſchen Verſuche, den ſie ins Reine ſchrieb. Als ſie fertig war, legte ſie das
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Wenn die geknickte Natur der Kinder unſrer
Freundin ſich erſt ein wenig wieder gehoben hat,
und ihr Geiſt von dem lebendigen Odem der friſchen
Jugend noch einmal angehaucht iſt, dann ſollen
ſie auch mit uns leſen. Früher würde ihre untheil-
nehmende Gegenwart uns ſtören, ohne ihnen er-
ſprießlich zu ſeyn.
Selbſt Deine Freundin wird bei dem Genuſſe
der herrlichſten Geiſtesprodukte unvermerkt von
Mißmuth und Langerweile beſchlichen, wenn ſie
müßige Ohren neben ſich gewahr wird, durch wel-
che nichts eindringen kann, und vollends Menſchen,
deren Herz allem Zarten und Schönen unerreich-
bar iſt. Mit unſern Kindern kann ich ſo man-
chen der ſchönſten Genüſſe theilen. Mathildens
Geiſt kann recht ſtarke Speiſe vertragen. Das
Große, das Erhabene, das Romantiſche ergreift
ſie ganz beſonders. Jda’s lyriſcher Geiſt kann ſich
beſſer mit der ſtilleren lyriſchen Poeſie befreunden.
Neulich überraſchte ich ſie des Morgens frühe bei
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Reine ſchrieb. Als ſie fertig war, legte ſie das
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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