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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Bänkchen, das von Waldreben überhangen ist.
Man übersieht von da den ganzen Garten und sieht
auf den See hinaus. Mathilde und der Fähnrich
gingen Arm in Arm in einiger Ferne vorüber. Es
ist doch was köstliches einen Bruder zu haben, fing
ich an, wie die Mathilde jetzt so glücklich ist! Wie
sie so schön an den Bruder geschmiegt dahin wan-
delt! -- Ja, Tante, das weiß ich auch, wie man
da so glücklich ist! Wenn ich den Bruno nicht hätte,
ich möchte nicht leben. Das sieht man Dir aber
nicht immer an, daß Du ihn so gar lieb hast. Oft
scheint es, Du habest Deinen Muthwillen lieber
als den Bruder, wenn Du ihn so recht auf den
Bruno loslässest.

O darüber habe ich mich schon oft geärgert, aber
ich kann es nicht lassen, ihn zu necken, wenn er
so unbändig vernünftig -- gravitätisch meyne ich --
und so weise ist. Wenn ihn aber ein andres neck-
te, dann würde ich sehr böse werden, und wenn
es selbst Jda wäre, ich könnte unartig gegen sie
seyn. Nun sieh, Hertha, gerade so wie Dir's da
zu Muthe wird, so ist es jetzt auch Mathilden,

Bänkchen, das von Waldreben überhangen iſt.
Man überſieht von da den ganzen Garten und ſieht
auf den See hinaus. Mathilde und der Fähnrich
gingen Arm in Arm in einiger Ferne vorüber. Es
iſt doch was köſtliches einen Bruder zu haben, fing
ich an, wie die Mathilde jetzt ſo glücklich iſt! Wie
ſie ſo ſchön an den Bruder geſchmiegt dahin wan-
delt! — Ja, Tante, das weiß ich auch, wie man
da ſo glücklich iſt! Wenn ich den Bruno nicht hätte,
ich möchte nicht leben. Das ſieht man Dir aber
nicht immer an, daß Du ihn ſo gar lieb haſt. Oft
ſcheint es, Du habeſt Deinen Muthwillen lieber
als den Bruder, wenn Du ihn ſo recht auf den
Bruno losläſſeſt.

O darüber habe ich mich ſchon oft geärgert, aber
ich kann es nicht laſſen, ihn zu necken, wenn er
ſo unbändig vernünftig — gravitätiſch meyne ich —
und ſo weiſe iſt. Wenn ihn aber ein andres neck-
te, dann würde ich ſehr böſe werden, und wenn
es ſelbſt Jda wäre, ich könnte unartig gegen ſie
ſeyn. Nun ſieh, Hertha, gerade ſo wie Dir’s da
zu Muthe wird, ſo iſt es jetzt auch Mathilden,

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[164/0172] Bänkchen, das von Waldreben überhangen iſt. Man überſieht von da den ganzen Garten und ſieht auf den See hinaus. Mathilde und der Fähnrich gingen Arm in Arm in einiger Ferne vorüber. Es iſt doch was köſtliches einen Bruder zu haben, fing ich an, wie die Mathilde jetzt ſo glücklich iſt! Wie ſie ſo ſchön an den Bruder geſchmiegt dahin wan- delt! — Ja, Tante, das weiß ich auch, wie man da ſo glücklich iſt! Wenn ich den Bruno nicht hätte, ich möchte nicht leben. Das ſieht man Dir aber nicht immer an, daß Du ihn ſo gar lieb haſt. Oft ſcheint es, Du habeſt Deinen Muthwillen lieber als den Bruder, wenn Du ihn ſo recht auf den Bruno losläſſeſt. O darüber habe ich mich ſchon oft geärgert, aber ich kann es nicht laſſen, ihn zu necken, wenn er ſo unbändig vernünftig — gravitätiſch meyne ich — und ſo weiſe iſt. Wenn ihn aber ein andres neck- te, dann würde ich ſehr böſe werden, und wenn es ſelbſt Jda wäre, ich könnte unartig gegen ſie ſeyn. Nun ſieh, Hertha, gerade ſo wie Dir’s da zu Muthe wird, ſo iſt es jetzt auch Mathilden,

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/172>, abgerufen am 21.11.2024.