völlig mächtig. Nun konnte man mich zu fürch- ten machen, womit man wollte. Erst graute mir vor Riesen ohne Kopf, wovon der Vetter mir er- zählt hatte, dann ver Pferden mit feurigen Au- gen, dann vor dem Alp, dann vor Gespenstern, vor Kobolden, Drachen, Hexen, dann vor Ko- meten, Gewittern, und am Ende vor dem jüng- sten Tag.
Meinen herrlichen Vater hatte ich sehr früh ver- loren. Niemand arbeitete der Furcht bei mir ent- gegen: sie nahm bald so überhand, daß ich keiner Freude mehr fähig war. Oft wünscht' ich mir den Tod, weil mir ein Leben voll steter Angst unleid- lich schien. Blumen und Vögel, meine vorzüg- lichsten Freunde, und die ganze schöne Natur sprachen mir vergebens zu; hinter jedem Baum und Strauche sah ich irgend ein Unthier lauern. Die Sterne, die mich früh so glücklich machten, weil man mir gesagt, auf jedem wohn' ein En- gel, wurden mir nun fürchterlich, weil ich immer meynte, sie würden sich in Kometen verwandeln und den jüngsten Tag heranbringen. Kurz, die
völlig mächtig. Nun konnte man mich zu fürch- ten machen, womit man wollte. Erſt graute mir vor Rieſen ohne Kopf, wovon der Vetter mir er- zählt hatte, dann ver Pferden mit feurigen Au- gen, dann vor dem Alp, dann vor Geſpenſtern, vor Kobolden, Drachen, Hexen, dann vor Ko- meten, Gewittern, und am Ende vor dem jüng- ſten Tag.
Meinen herrlichen Vater hatte ich ſehr früh ver- loren. Niemand arbeitete der Furcht bei mir ent- gegen: ſie nahm bald ſo überhand, daß ich keiner Freude mehr fähig war. Oft wünſcht’ ich mir den Tod, weil mir ein Leben voll ſteter Angſt unleid- lich ſchien. Blumen und Vögel, meine vorzüg- lichſten Freunde, und die ganze ſchöne Natur ſprachen mir vergebens zu; hinter jedem Baum und Strauche ſah ich irgend ein Unthier lauern. Die Sterne, die mich früh ſo glücklich machten, weil man mir geſagt, auf jedem wohn’ ein En- gel, wurden mir nun fürchterlich, weil ich immer meynte, ſie würden ſich in Kometen verwandeln und den jüngſten Tag heranbringen. Kurz, die
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völlig mächtig. Nun konnte man mich zu fürch-
ten machen, womit man wollte. Erſt graute mir
vor Rieſen ohne Kopf, wovon der Vetter mir er-
zählt hatte, dann ver Pferden mit feurigen Au-
gen, dann vor dem Alp, dann vor Geſpenſtern,
vor Kobolden, Drachen, Hexen, dann vor Ko-
meten, Gewittern, und am Ende vor dem jüng-
ſten Tag.
Meinen herrlichen Vater hatte ich ſehr früh ver-
loren. Niemand arbeitete der Furcht bei mir ent-
gegen: ſie nahm bald ſo überhand, daß ich keiner
Freude mehr fähig war. Oft wünſcht’ ich mir den
Tod, weil mir ein Leben voll ſteter Angſt unleid-
lich ſchien. Blumen und Vögel, meine vorzüg-
lichſten Freunde, und die ganze ſchöne Natur
ſprachen mir vergebens zu; hinter jedem Baum
und Strauche ſah ich irgend ein Unthier lauern.
Die Sterne, die mich früh ſo glücklich machten,
weil man mir geſagt, auf jedem wohn’ ein En-
gel, wurden mir nun fürchterlich, weil ich immer
meynte, ſie würden ſich in Kometen verwandeln
und den jüngſten Tag heranbringen. Kurz, die
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/58>, abgerufen am 16.02.2025.
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