Jch. Weil für den Gehalt des Grußes dabei doch nicht viel gewonnen ist. Oder wir müßten fast jeden Monat die Formel ändern.
Clärchen. Aber gibt es denn gar kein Mit- tel, wie man zugleich höflich und aufrichtig seyn könne? Aufrichtig soll man doch ganz gewiß seyn, und höflich will man auch gern seyn.
Jch. Doch, mein liebes Clärchen. Es gibt ein recht sicheres Mittel.
Jda. O beste Tante, sage es uns. Dies müssen wir ja kennen.
Jch. Es liegt dies Mittel in jedem liebevol- len Herzen. Ein solches Herz wird nie gegen die Wahrheit sündigen, indem es Andern in Form der Höflichkeit Gutes wünscht. Und wenn es im Augenblicke, wo es die gewohnten Worte ausspricht, seiner Gesinnung des Wohlwollens für den an- dern sich auch nicht bewußt wird, so ist sie doch im Ganzen da, und es hegt im Jnnern kein Gefühl, das ihm widerspräche. Auch ist es in den gebil- detern Ständen gar nicht einmal nöthig, daß
Jch. Weil für den Gehalt des Grußes dabei doch nicht viel gewonnen iſt. Oder wir müßten faſt jeden Monat die Formel ändern.
Clärchen. Aber gibt es denn gar kein Mit- tel, wie man zugleich höflich und aufrichtig ſeyn könne? Aufrichtig ſoll man doch ganz gewiß ſeyn, und höflich will man auch gern ſeyn.
Jch. Doch, mein liebes Clärchen. Es gibt ein recht ſicheres Mittel.
Jda. O beſte Tante, ſage es uns. Dies müſſen wir ja kennen.
Jch. Es liegt dies Mittel in jedem liebevol- len Herzen. Ein ſolches Herz wird nie gegen die Wahrheit ſündigen, indem es Andern in Form der Höflichkeit Gutes wünſcht. Und wenn es im Augenblicke, wo es die gewohnten Worte ausſpricht, ſeiner Geſinnung des Wohlwollens für den an- dern ſich auch nicht bewußt wird, ſo iſt ſie doch im Ganzen da, und es hegt im Jnnern kein Gefühl, das ihm widerſpräche. Auch iſt es in den gebil- detern Ständen gar nicht einmal nöthig, daß
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0328"n="314"/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Weil für den Gehalt des Grußes dabei<lb/>
doch nicht viel gewonnen iſt. Oder wir müßten<lb/>
faſt jeden Monat die Formel ändern.</p><lb/><p><hirendition="#g">Clärchen</hi>. Aber gibt es denn gar kein Mit-<lb/>
tel, wie man zugleich höflich und aufrichtig ſeyn<lb/>
könne? Aufrichtig <hirendition="#g">ſoll</hi> man doch <hirendition="#g">ganz gewiß</hi><lb/>ſeyn, und höflich will man auch gern ſeyn.</p><lb/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Doch, mein liebes Clärchen. Es gibt<lb/>
ein recht ſicheres Mittel.</p><lb/><p><hirendition="#g">Jda</hi>. O beſte Tante, ſage es uns. Dies<lb/>
müſſen wir ja kennen.</p><lb/><p><hirendition="#g">Jch</hi>. Es liegt dies Mittel in jedem liebevol-<lb/>
len Herzen. Ein ſolches Herz wird nie gegen die<lb/>
Wahrheit ſündigen, indem es Andern in Form<lb/>
der Höflichkeit Gutes wünſcht. Und wenn es im<lb/>
Augenblicke, wo es die gewohnten Worte ausſpricht,<lb/>ſeiner Geſinnung des Wohlwollens für den an-<lb/>
dern ſich auch nicht bewußt wird, ſo iſt ſie doch im<lb/>
Ganzen da, und es hegt im Jnnern kein Gefühl,<lb/>
das ihm widerſpräche. Auch iſt es in den gebil-<lb/>
detern Ständen gar nicht einmal nöthig, daß<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[314/0328]
Jch. Weil für den Gehalt des Grußes dabei
doch nicht viel gewonnen iſt. Oder wir müßten
faſt jeden Monat die Formel ändern.
Clärchen. Aber gibt es denn gar kein Mit-
tel, wie man zugleich höflich und aufrichtig ſeyn
könne? Aufrichtig ſoll man doch ganz gewiß
ſeyn, und höflich will man auch gern ſeyn.
Jch. Doch, mein liebes Clärchen. Es gibt
ein recht ſicheres Mittel.
Jda. O beſte Tante, ſage es uns. Dies
müſſen wir ja kennen.
Jch. Es liegt dies Mittel in jedem liebevol-
len Herzen. Ein ſolches Herz wird nie gegen die
Wahrheit ſündigen, indem es Andern in Form
der Höflichkeit Gutes wünſcht. Und wenn es im
Augenblicke, wo es die gewohnten Worte ausſpricht,
ſeiner Geſinnung des Wohlwollens für den an-
dern ſich auch nicht bewußt wird, ſo iſt ſie doch im
Ganzen da, und es hegt im Jnnern kein Gefühl,
das ihm widerſpräche. Auch iſt es in den gebil-
detern Ständen gar nicht einmal nöthig, daß
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/328>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.