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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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vor von allzufremdartigen Dingen befangen wurde.
Jn der letzten Stunde hatte Jda "Kennst du das
Land" gelernt. Du kennst einen nicht kleinen
Hang zur süßen Schwärmerei in dem Kinde. Das
Lied und sein schwermüthiger Geist hatte sich ihrer
stark bemächtigt. Sie hatte es selbst gewählt, als
sie es in einem meiner Notenbücher mit Zelter's Com-
position gesehen, und hatte von niemanden ein
erklärendes Wort darüber gehört, und doch
drückte sie es wirklich schön und höchst rührend
aus. Aber wie spricht sich auch das Sehnen nach
dem unbekannten Lande, dessen Verheißung wir
alle im Busen tragen, in dieser Sehnsucht Mi-
gnon's nach Jtalien so wunderbar hinreißend aus?
Wie fließt beides in einander! Es lockt der Dich-
ter das Herz aus seinem behaglichen, bequemen
Frieden mit seiner Alltagswelt heraus nach jenem
Zauberlande hin, das schon in dämmernder Frühe
des Lebens uns aus der tiefsten Ferne anstrahlt.
"Erzähle uns doch etwas, liebe Tante, von der
armen kleinen Mignon, die so gern nach dem
schönen Lande hinwollte."

Jch erzählte ihnen, wie das Kind, als es noch

vor von allzufremdartigen Dingen befangen wurde.
Jn der letzten Stunde hatte Jda „Kennſt du das
Land‟ gelernt. Du kennſt einen nicht kleinen
Hang zur ſüßen Schwärmerei in dem Kinde. Das
Lied und ſein ſchwermüthiger Geiſt hatte ſich ihrer
ſtark bemächtigt. Sie hatte es ſelbſt gewählt, als
ſie es in einem meiner Notenbücher mit Zelter’s Com-
poſition geſehen, und hatte von niemanden ein
erklärendes Wort darüber gehört, und doch
drückte ſie es wirklich ſchön und höchſt rührend
aus. Aber wie ſpricht ſich auch das Sehnen nach
dem unbekannten Lande, deſſen Verheißung wir
alle im Buſen tragen, in dieſer Sehnſucht Mi-
gnon’s nach Jtalien ſo wunderbar hinreißend aus?
Wie fließt beides in einander! Es lockt der Dich-
ter das Herz aus ſeinem behaglichen, bequemen
Frieden mit ſeiner Alltagswelt heraus nach jenem
Zauberlande hin, das ſchon in dämmernder Frühe
des Lebens uns aus der tiefſten Ferne anſtrahlt.
„Erzähle uns doch etwas, liebe Tante, von der
armen kleinen Mignon, die ſo gern nach dem
ſchönen Lande hinwollte.‟

Jch erzählte ihnen, wie das Kind, als es noch

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[284/0298] vor von allzufremdartigen Dingen befangen wurde. Jn der letzten Stunde hatte Jda „Kennſt du das Land‟ gelernt. Du kennſt einen nicht kleinen Hang zur ſüßen Schwärmerei in dem Kinde. Das Lied und ſein ſchwermüthiger Geiſt hatte ſich ihrer ſtark bemächtigt. Sie hatte es ſelbſt gewählt, als ſie es in einem meiner Notenbücher mit Zelter’s Com- poſition geſehen, und hatte von niemanden ein erklärendes Wort darüber gehört, und doch drückte ſie es wirklich ſchön und höchſt rührend aus. Aber wie ſpricht ſich auch das Sehnen nach dem unbekannten Lande, deſſen Verheißung wir alle im Buſen tragen, in dieſer Sehnſucht Mi- gnon’s nach Jtalien ſo wunderbar hinreißend aus? Wie fließt beides in einander! Es lockt der Dich- ter das Herz aus ſeinem behaglichen, bequemen Frieden mit ſeiner Alltagswelt heraus nach jenem Zauberlande hin, das ſchon in dämmernder Frühe des Lebens uns aus der tiefſten Ferne anſtrahlt. „Erzähle uns doch etwas, liebe Tante, von der armen kleinen Mignon, die ſo gern nach dem ſchönen Lande hinwollte.‟ Jch erzählte ihnen, wie das Kind, als es noch

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/298>, abgerufen am 22.11.2024.