Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

edle Freundin! ich weiß, ich darf in so ernsten
Augenblicken das Weib in Jhnen vergessen -- den
Unglauben eben so auf Treu' und Glauben an,
wie sie fast alle Resultate des forschenden Verstan-
des annimmt, und annehmen muß, da sie aus
wohlbekannten Gründen nicht selbst forschen kann.

Jch. Eine traurige Wahrheit, lieber Pfarrer!

Pfarrer. Nicht so gar traurig, meine Freun-
din! Wenn das Gebiet des forschenden Verstan-
des und der spekulirenden Vernunft in der Regel
Jhrem Geschlechte verbotenes Land, und die herbe
Frucht vom Baume des Erkenntnisses Jhnen nicht
gedeihlich ist; o! es ward Jhnen schöner Ersatz
dafür! Sie sollten -- Vestalinnen in einem ho-
hen Sinne -- die heiligen Himmelsfunken: Glau-
be, Liebe und Hoffnung, in der Menschenbrust be-
wahren; Sie sollten sie der keimenden Mensch-
heit, die Jhnen zunächst anvertraut ward, auf
die unmittelbarste Weise, ohne Kunst und fast ohne
Absicht, wie durch innere Nothwendigkeit, mit-
theilen. Da mußte aber Jhr ganzes Wesen da-
von durchdrungen seyn. Es mußte dieser heilige

edle Freundin! ich weiß, ich darf in ſo ernſten
Augenblicken das Weib in Jhnen vergeſſen — den
Unglauben eben ſo auf Treu’ und Glauben an,
wie ſie faſt alle Reſultate des forſchenden Verſtan-
des annimmt, und annehmen muß, da ſie aus
wohlbekannten Gründen nicht ſelbſt forſchen kann.

Jch. Eine traurige Wahrheit, lieber Pfarrer!

Pfarrer. Nicht ſo gar traurig, meine Freun-
din! Wenn das Gebiet des forſchenden Verſtan-
des und der ſpekulirenden Vernunft in der Regel
Jhrem Geſchlechte verbotenes Land, und die herbe
Frucht vom Baume des Erkenntniſſes Jhnen nicht
gedeihlich iſt; o! es ward Jhnen ſchöner Erſatz
dafür! Sie ſollten — Veſtalinnen in einem ho-
hen Sinne — die heiligen Himmelsfunken: Glau-
be, Liebe und Hoffnung, in der Menſchenbruſt be-
wahren; Sie ſollten ſie der keimenden Menſch-
heit, die Jhnen zunächſt anvertraut ward, auf
die unmittelbarſte Weiſe, ohne Kunſt und faſt ohne
Abſicht, wie durch innere Nothwendigkeit, mit-
theilen. Da mußte aber Jhr ganzes Weſen da-
von durchdrungen ſeyn. Es mußte dieſer heilige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0203" n="189"/>
edle Freundin! ich weiß, ich darf in &#x017F;o ern&#x017F;ten<lb/>
Augenblicken das Weib in Jhnen verge&#x017F;&#x017F;en &#x2014; den<lb/>
Unglauben eben &#x017F;o auf Treu&#x2019; und Glauben an,<lb/>
wie &#x017F;ie fa&#x017F;t alle Re&#x017F;ultate des for&#x017F;chenden Ver&#x017F;tan-<lb/>
des annimmt, und annehmen muß, da &#x017F;ie aus<lb/>
wohlbekannten Gründen nicht &#x017F;elb&#x017F;t for&#x017F;chen kann.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Eine traurige Wahrheit, lieber Pfarrer!</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Pfarrer</hi>. Nicht &#x017F;o gar traurig, meine Freun-<lb/>
din! Wenn das Gebiet des for&#x017F;chenden Ver&#x017F;tan-<lb/>
des und der &#x017F;pekulirenden Vernunft in der Regel<lb/>
Jhrem Ge&#x017F;chlechte verbotenes Land, und die herbe<lb/>
Frucht vom Baume des Erkenntni&#x017F;&#x017F;es Jhnen nicht<lb/>
gedeihlich i&#x017F;t; o! es ward Jhnen &#x017F;chöner Er&#x017F;atz<lb/>
dafür! Sie &#x017F;ollten &#x2014; Ve&#x017F;talinnen in einem ho-<lb/>
hen Sinne &#x2014; die heiligen Himmelsfunken: Glau-<lb/>
be, Liebe und Hoffnung, in der Men&#x017F;chenbru&#x017F;t be-<lb/>
wahren; Sie &#x017F;ollten &#x017F;ie der keimenden Men&#x017F;ch-<lb/>
heit, die Jhnen zunäch&#x017F;t anvertraut ward, auf<lb/>
die unmittelbar&#x017F;te Wei&#x017F;e, ohne Kun&#x017F;t und fa&#x017F;t ohne<lb/>
Ab&#x017F;icht, wie durch innere Nothwendigkeit, mit-<lb/>
theilen. Da mußte aber Jhr ganzes We&#x017F;en da-<lb/>
von durchdrungen &#x017F;eyn. Es mußte die&#x017F;er heilige<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0203] edle Freundin! ich weiß, ich darf in ſo ernſten Augenblicken das Weib in Jhnen vergeſſen — den Unglauben eben ſo auf Treu’ und Glauben an, wie ſie faſt alle Reſultate des forſchenden Verſtan- des annimmt, und annehmen muß, da ſie aus wohlbekannten Gründen nicht ſelbſt forſchen kann. Jch. Eine traurige Wahrheit, lieber Pfarrer! Pfarrer. Nicht ſo gar traurig, meine Freun- din! Wenn das Gebiet des forſchenden Verſtan- des und der ſpekulirenden Vernunft in der Regel Jhrem Geſchlechte verbotenes Land, und die herbe Frucht vom Baume des Erkenntniſſes Jhnen nicht gedeihlich iſt; o! es ward Jhnen ſchöner Erſatz dafür! Sie ſollten — Veſtalinnen in einem ho- hen Sinne — die heiligen Himmelsfunken: Glau- be, Liebe und Hoffnung, in der Menſchenbruſt be- wahren; Sie ſollten ſie der keimenden Menſch- heit, die Jhnen zunächſt anvertraut ward, auf die unmittelbarſte Weiſe, ohne Kunſt und faſt ohne Abſicht, wie durch innere Nothwendigkeit, mit- theilen. Da mußte aber Jhr ganzes Weſen da- von durchdrungen ſeyn. Es mußte dieſer heilige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/203
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/203>, abgerufen am 25.11.2024.