Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



den Mann zu sehen, der einen großen Theil Dei-
ner gegenwärtigen und künftigen Lebensfreude in
Händen hat.

Diesen Morgen, als Woldemar bei mir saß,
sagte er: "Tante Selma, ich kann dir gar nicht
beschreiben (seit ein Paar Tagen heißt er mich von
freien Stücken Du, ohne daß wir darüber gespro-
chen hätten), ich kann dir gar nicht beschreiben,
wie mir ist, wenn ich nach Hause denke. Oft ist
es, als müßt' ich dich bitten, im Augenblicke abzu-
reisen, und ich müßte der Engelsmutter an den
Hals fliegen, und sie fest, fest halten, daß sie blei-
ben müßte, und mit uns hier in L ... glücklich
seyn; und dann wünsch' ich wieder, sie wär' erst
fort nach Petersburg, daß ich nicht mehr so viel
daran denken müßte. Und dann kann ich auch
Herrn von P. noch besser lieb haben, und besser
Acht haben, wenn er mit mir spricht, und mit mir
lieset. Wenn ich jetzt an die Mutter gedacht habe,
kann ich an nichts anders mehr denken. Alle Nacht
träume ich von ihr und von Jda. Auch diese Nacht
wieder. Als ich heut Morgen aufwachte, stand



den Mann zu ſehen, der einen großen Theil Dei-
ner gegenwärtigen und künftigen Lebensfreude in
Händen hat.

Dieſen Morgen, als Woldemar bei mir ſaß,
ſagte er: „Tante Selma, ich kann dir gar nicht
beſchreiben (ſeit ein Paar Tagen heißt er mich von
freien Stücken Du, ohne daß wir darüber geſpro-
chen hätten), ich kann dir gar nicht beſchreiben,
wie mir iſt, wenn ich nach Hauſe denke. Oft iſt
es, als müßt’ ich dich bitten, im Augenblicke abzu-
reiſen, und ich müßte der Engelsmutter an den
Hals fliegen, und ſie feſt, feſt halten, daß ſie blei-
ben müßte, und mit uns hier in L … glücklich
ſeyn; und dann wünſch’ ich wieder, ſie wär’ erſt
fort nach Petersburg, daß ich nicht mehr ſo viel
daran denken müßte. Und dann kann ich auch
Herrn von P. noch beſſer lieb haben, und beſſer
Acht haben, wenn er mit mir ſpricht, und mit mir
lieſet. Wenn ich jetzt an die Mutter gedacht habe,
kann ich an nichts anders mehr denken. Alle Nacht
träume ich von ihr und von Jda. Auch dieſe Nacht
wieder. Als ich heut Morgen aufwachte, ſtand

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0139" n="125"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
den Mann zu &#x017F;ehen, der einen großen Theil Dei-<lb/>
ner gegenwärtigen und künftigen Lebensfreude in<lb/>
Händen hat.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;en Morgen, als Woldemar bei mir &#x017F;aß,<lb/>
&#x017F;agte er: &#x201E;Tante Selma, ich kann dir gar nicht<lb/>
be&#x017F;chreiben (&#x017F;eit ein Paar Tagen heißt er mich von<lb/>
freien Stücken Du, ohne daß wir darüber ge&#x017F;pro-<lb/>
chen hätten), ich kann dir gar nicht be&#x017F;chreiben,<lb/>
wie mir i&#x017F;t, wenn ich nach Hau&#x017F;e denke. Oft i&#x017F;t<lb/>
es, als müßt&#x2019; ich dich bitten, im Augenblicke abzu-<lb/>
rei&#x017F;en, und ich müßte der Engelsmutter an den<lb/>
Hals fliegen, und &#x017F;ie fe&#x017F;t, fe&#x017F;t halten, daß &#x017F;ie blei-<lb/>
ben müßte, und mit uns hier in L &#x2026; glücklich<lb/>
&#x017F;eyn; und dann wün&#x017F;ch&#x2019; ich wieder, &#x017F;ie wär&#x2019; er&#x017F;t<lb/>
fort nach Petersburg, daß ich nicht mehr &#x017F;o viel<lb/>
daran denken müßte. Und dann kann ich auch<lb/>
Herrn von P. noch be&#x017F;&#x017F;er lieb haben, und be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
Acht haben, wenn er mit mir &#x017F;pricht, und mit mir<lb/>
lie&#x017F;et. Wenn ich jetzt an die Mutter gedacht habe,<lb/>
kann ich an nichts anders mehr denken. Alle Nacht<lb/>
träume ich von ihr und von Jda. Auch die&#x017F;e Nacht<lb/>
wieder. Als ich heut Morgen aufwachte, &#x017F;tand<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0139] den Mann zu ſehen, der einen großen Theil Dei- ner gegenwärtigen und künftigen Lebensfreude in Händen hat. Dieſen Morgen, als Woldemar bei mir ſaß, ſagte er: „Tante Selma, ich kann dir gar nicht beſchreiben (ſeit ein Paar Tagen heißt er mich von freien Stücken Du, ohne daß wir darüber geſpro- chen hätten), ich kann dir gar nicht beſchreiben, wie mir iſt, wenn ich nach Hauſe denke. Oft iſt es, als müßt’ ich dich bitten, im Augenblicke abzu- reiſen, und ich müßte der Engelsmutter an den Hals fliegen, und ſie feſt, feſt halten, daß ſie blei- ben müßte, und mit uns hier in L … glücklich ſeyn; und dann wünſch’ ich wieder, ſie wär’ erſt fort nach Petersburg, daß ich nicht mehr ſo viel daran denken müßte. Und dann kann ich auch Herrn von P. noch beſſer lieb haben, und beſſer Acht haben, wenn er mit mir ſpricht, und mit mir lieſet. Wenn ich jetzt an die Mutter gedacht habe, kann ich an nichts anders mehr denken. Alle Nacht träume ich von ihr und von Jda. Auch dieſe Nacht wieder. Als ich heut Morgen aufwachte, ſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/139
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/139>, abgerufen am 22.11.2024.