Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.deinen Willen gehabt, aber nun mußt du auch artig seyn. Wer aber täglich ungezogener ward, war Adolf. Eines Abends machte ich mit meiner Schwester und dieser Mutter und ihrem Knaben einen weiten Spaziergang über Feld. Es war einer von den herrlichen Junius-Abenden, die uns wie in eine andere Welt versetzen. Wir waren sehr froh; aber wir waren noch weit vom Hause. Der Kleine hielt uns auf: er hatte das Mitgehen ertrotzt. Nun wurd' es sehr kühl. Die Mutter trug auf dem einen Arm einen Ueberrock für den Kleinen, auf den Fall, daß es kühl werden sollte. Auf dem andern Arm hatte sie ein großes Shawl hängen, welches sie für sich mitgenommen. Nun fragte sie den Kleinen: Adölfchen, willst du den Ueberrock anziehen? "Nein, Mutter, ich will den Ueberrock nicht anziehen." -- Jch redete ihr zu, dem Kleinen den Ueberrock umzugeben, weil er sich sonst erkälten müsse. Aber sie sagte: er will es ja nicht, und so zog er ihn nicht an. Nun wollte die Mutter sich selbst den Shawl deinen Willen gehabt, aber nun mußt du auch artig ſeyn. Wer aber täglich ungezogener ward, war Adolf. Eines Abends machte ich mit meiner Schweſter und dieſer Mutter und ihrem Knaben einen weiten Spaziergang über Feld. Es war einer von den herrlichen Junius-Abenden, die uns wie in eine andere Welt verſetzen. Wir waren ſehr froh; aber wir waren noch weit vom Hauſe. Der Kleine hielt uns auf: er hatte das Mitgehen ertrotzt. Nun wurd’ es ſehr kühl. Die Mutter trug auf dem einen Arm einen Ueberrock für den Kleinen, auf den Fall, daß es kühl werden ſollte. Auf dem andern Arm hatte ſie ein großes Shawl hängen, welches ſie für ſich mitgenommen. Nun fragte ſie den Kleinen: Adölfchen, willſt du den Ueberrock anziehen? „Nein, Mutter, ich will den Ueberrock nicht anziehen.‟ — Jch redete ihr zu, dem Kleinen den Ueberrock umzugeben, weil er ſich ſonſt erkälten müſſe. Aber ſie ſagte: er will es ja nicht, und ſo zog er ihn nicht an. Nun wollte die Mutter ſich ſelbſt den Shawl <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0112" n="98"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> deinen Willen gehabt, aber nun mußt du auch<lb/> artig ſeyn. Wer aber täglich ungezogener ward,<lb/> war Adolf. Eines Abends machte ich mit meiner<lb/> Schweſter und dieſer Mutter und ihrem Knaben<lb/> einen weiten Spaziergang über Feld. Es war<lb/> einer von den herrlichen Junius-Abenden, die uns<lb/> wie in eine andere Welt verſetzen. Wir waren<lb/> ſehr froh; aber wir waren noch weit vom Hauſe.<lb/> Der Kleine hielt uns auf: er hatte das Mitgehen<lb/> ertrotzt. Nun wurd’ es ſehr kühl. Die Mutter<lb/> trug auf dem einen Arm einen Ueberrock für den<lb/> Kleinen, auf den Fall, daß es kühl werden ſollte.<lb/> Auf dem andern Arm hatte ſie ein großes Shawl<lb/> hängen, welches ſie für ſich mitgenommen. Nun<lb/> fragte ſie den Kleinen: Adölfchen, willſt du den<lb/> Ueberrock anziehen? „Nein, Mutter, ich will den<lb/> Ueberrock nicht anziehen.‟ — Jch redete ihr zu, dem<lb/> Kleinen den Ueberrock umzugeben, weil er ſich<lb/> ſonſt erkälten müſſe. Aber ſie ſagte: er will es<lb/> ja nicht, und ſo zog er ihn nicht an.</p><lb/> <p>Nun wollte die Mutter ſich ſelbſt den Shawl<lb/> umthun; der Bube ſchrie, und riß ihn ihr vom<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0112]
deinen Willen gehabt, aber nun mußt du auch
artig ſeyn. Wer aber täglich ungezogener ward,
war Adolf. Eines Abends machte ich mit meiner
Schweſter und dieſer Mutter und ihrem Knaben
einen weiten Spaziergang über Feld. Es war
einer von den herrlichen Junius-Abenden, die uns
wie in eine andere Welt verſetzen. Wir waren
ſehr froh; aber wir waren noch weit vom Hauſe.
Der Kleine hielt uns auf: er hatte das Mitgehen
ertrotzt. Nun wurd’ es ſehr kühl. Die Mutter
trug auf dem einen Arm einen Ueberrock für den
Kleinen, auf den Fall, daß es kühl werden ſollte.
Auf dem andern Arm hatte ſie ein großes Shawl
hängen, welches ſie für ſich mitgenommen. Nun
fragte ſie den Kleinen: Adölfchen, willſt du den
Ueberrock anziehen? „Nein, Mutter, ich will den
Ueberrock nicht anziehen.‟ — Jch redete ihr zu, dem
Kleinen den Ueberrock umzugeben, weil er ſich
ſonſt erkälten müſſe. Aber ſie ſagte: er will es
ja nicht, und ſo zog er ihn nicht an.
Nun wollte die Mutter ſich ſelbſt den Shawl
umthun; der Bube ſchrie, und riß ihn ihr vom
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Zitationshilfe: | Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/112>, abgerufen am 16.02.2025. |