führt eine Stelle von Lorentz an, welchen die französische Regierung in die südlichen Departements abgeschickt hatte, von wo er ein ähnliches schreckliches Bild von dem Zustande des Landes am Fuße der Alpen und Pyrenäen entwirft, wie es auf unserer S. 581 angedeutet ist, indem dieser hinzu- fügt: "es kann über die einzige Ursache der alljährlichen Unfälle und Katastrophen kein Zweifel obwalten: sie besteht in der Entblößung der Höhen. Kann diese mißbräuchliche Benutzung, die so unglückselige, sich 40 bis 50 Stunden weit in die Ebene erstreckende Folgen nach sich zieht, geduldet werden?" -- und Marschand fügt dann hinzu: "dieselbe Frage läßt sich mit eben so viel Fug und Recht an mehr als die Hälfte der schweizerischen Regierungen stellen."
Der Alpenwald ist das vorgeschobene Corps, das bis dicht an das Lager des Feindes herantretend ihn bändigt und vom Hereinbrechen in das diesseitige Gebiet abhält. Er thut es im heißen Kampfe, in welchem Tausende fallen, während es der Gebirgswald durch ruhige Okkupation thut und kaum einen Mann dabei verliert.
Hierin ist der äußere Unterschied zwischen beiden angedeutet. Wie einem aus dem Gefecht kommenden Heerhaufen sieht man es fast jedem Baum des Alpenwaldes an, daß er immer im Gefecht steht. Abgewettert und zerzaust, ihrer Gliedmaßen beraubt und mit zerfetztem Rindenkleide trotzt die vorderste Reihe dem Andrange der donnernden Felsgeschosse, bis diese zuletzt über Leichen sich auf die dahinterstehenden stürzen, aber die tapfern Kolonnen nicht durchbrechen können.
Wenn jeder Alpenwald eine Vorhut gegen die mancherlei Gewalt- thätigkeiten der schneegekrönten Häupter ist, und zwar im allgemeinen Dienst, so ist der Bannwald eine Leibgarde im besonderen Dienst eines unter ihm liegenden Alpengeländes, von dem er den Lauinensturz abzu- halten hat. Es ist dies der unmittelbarste, handgreiflichste, gewissermaßen ein persönlicher Dienst, den Bäume den Menschen leisten, neben welchen sich ein anderer, eben so unmittelbarer und weniger handgreiflicher stellt, nämlich ein gesundheitspolizeilicher, indem viele Fälle bekannt sind, wo Waldungen das Eindringen von Sumpfmiasma in benachbarte Gebiete verhindern. Die Furcht vor Lauinensturz überwindet die gemeine Habsucht, die schon unermeßliche Holzmassen den Alpenwäldern entfremdet hat, und die Bannwälder stehen sicherer unter dem Schutz von Furcht und Schrecken,
führt eine Stelle von Lorentz an, welchen die franzöſiſche Regierung in die ſüdlichen Departements abgeſchickt hatte, von wo er ein ähnliches ſchreckliches Bild von dem Zuſtande des Landes am Fuße der Alpen und Pyrenäen entwirft, wie es auf unſerer S. 581 angedeutet iſt, indem dieſer hinzu- fügt: „es kann über die einzige Urſache der alljährlichen Unfälle und Kataſtrophen kein Zweifel obwalten: ſie beſteht in der Entblößung der Höhen. Kann dieſe mißbräuchliche Benutzung, die ſo unglückſelige, ſich 40 bis 50 Stunden weit in die Ebene erſtreckende Folgen nach ſich zieht, geduldet werden?“ — und Marſchand fügt dann hinzu: „dieſelbe Frage läßt ſich mit eben ſo viel Fug und Recht an mehr als die Hälfte der ſchweizeriſchen Regierungen ſtellen.“
Der Alpenwald iſt das vorgeſchobene Corps, das bis dicht an das Lager des Feindes herantretend ihn bändigt und vom Hereinbrechen in das dieſſeitige Gebiet abhält. Er thut es im heißen Kampfe, in welchem Tauſende fallen, während es der Gebirgswald durch ruhige Okkupation thut und kaum einen Mann dabei verliert.
Hierin iſt der äußere Unterſchied zwiſchen beiden angedeutet. Wie einem aus dem Gefecht kommenden Heerhaufen ſieht man es faſt jedem Baum des Alpenwaldes an, daß er immer im Gefecht ſteht. Abgewettert und zerzauſt, ihrer Gliedmaßen beraubt und mit zerfetztem Rindenkleide trotzt die vorderſte Reihe dem Andrange der donnernden Felsgeſchoſſe, bis dieſe zuletzt über Leichen ſich auf die dahinterſtehenden ſtürzen, aber die tapfern Kolonnen nicht durchbrechen können.
Wenn jeder Alpenwald eine Vorhut gegen die mancherlei Gewalt- thätigkeiten der ſchneegekrönten Häupter iſt, und zwar im allgemeinen Dienſt, ſo iſt der Bannwald eine Leibgarde im beſonderen Dienſt eines unter ihm liegenden Alpengeländes, von dem er den Lauinenſturz abzu- halten hat. Es iſt dies der unmittelbarſte, handgreiflichſte, gewiſſermaßen ein perſönlicher Dienſt, den Bäume den Menſchen leiſten, neben welchen ſich ein anderer, eben ſo unmittelbarer und weniger handgreiflicher ſtellt, nämlich ein geſundheitspolizeilicher, indem viele Fälle bekannt ſind, wo Waldungen das Eindringen von Sumpfmiasma in benachbarte Gebiete verhindern. Die Furcht vor Lauinenſturz überwindet die gemeine Habſucht, die ſchon unermeßliche Holzmaſſen den Alpenwäldern entfremdet hat, und die Bannwälder ſtehen ſicherer unter dem Schutz von Furcht und Schrecken,
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[574/0630]
führt eine Stelle von Lorentz an, welchen die franzöſiſche Regierung in die
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Bild von dem Zuſtande des Landes am Fuße der Alpen und Pyrenäen
entwirft, wie es auf unſerer S. 581 angedeutet iſt, indem dieſer hinzu-
fügt: „es kann über die einzige Urſache der alljährlichen Unfälle und
Kataſtrophen kein Zweifel obwalten: ſie beſteht in der Entblößung
der Höhen. Kann dieſe mißbräuchliche Benutzung, die ſo unglückſelige,
ſich 40 bis 50 Stunden weit in die Ebene erſtreckende Folgen nach ſich
zieht, geduldet werden?“ — und Marſchand fügt dann hinzu: „dieſelbe
Frage läßt ſich mit eben ſo viel Fug und Recht an mehr als die Hälfte
der ſchweizeriſchen Regierungen ſtellen.“
Der Alpenwald iſt das vorgeſchobene Corps, das bis dicht an das
Lager des Feindes herantretend ihn bändigt und vom Hereinbrechen in
das dieſſeitige Gebiet abhält. Er thut es im heißen Kampfe, in welchem
Tauſende fallen, während es der Gebirgswald durch ruhige Okkupation
thut und kaum einen Mann dabei verliert.
Hierin iſt der äußere Unterſchied zwiſchen beiden angedeutet. Wie
einem aus dem Gefecht kommenden Heerhaufen ſieht man es faſt jedem
Baum des Alpenwaldes an, daß er immer im Gefecht ſteht. Abgewettert
und zerzauſt, ihrer Gliedmaßen beraubt und mit zerfetztem Rindenkleide
trotzt die vorderſte Reihe dem Andrange der donnernden Felsgeſchoſſe, bis
dieſe zuletzt über Leichen ſich auf die dahinterſtehenden ſtürzen, aber die
tapfern Kolonnen nicht durchbrechen können.
Wenn jeder Alpenwald eine Vorhut gegen die mancherlei Gewalt-
thätigkeiten der ſchneegekrönten Häupter iſt, und zwar im allgemeinen
Dienſt, ſo iſt der Bannwald eine Leibgarde im beſonderen Dienſt eines
unter ihm liegenden Alpengeländes, von dem er den Lauinenſturz abzu-
halten hat. Es iſt dies der unmittelbarſte, handgreiflichſte, gewiſſermaßen
ein perſönlicher Dienſt, den Bäume den Menſchen leiſten, neben welchen
ſich ein anderer, eben ſo unmittelbarer und weniger handgreiflicher ſtellt,
nämlich ein geſundheitspolizeilicher, indem viele Fälle bekannt ſind, wo
Waldungen das Eindringen von Sumpfmiasma in benachbarte Gebiete
verhindern. Die Furcht vor Lauinenſturz überwindet die gemeine Habſucht,
die ſchon unermeßliche Holzmaſſen den Alpenwäldern entfremdet hat, und
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/630>, abgerufen am 23.12.2024.
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